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fassen oder einen Gesprächsfaden aufzunehmen. Die Diskussionen ihrer Kollegen verkamen zur Kakophonie ergebener Untertanen. Elende Schleimer, allesamt. Das Gebrabbel, Gemurmel und gelegentliche Gelächter dauerte noch knapp zwanzig Minuten, doch für Sylvia dehnten sich diese Minuten ins Unendliche. Wochen, Monate, Jahre schienen zu verfliegen, doch sie klebte auf diesem Stuhl fest, verdammt dazu, dieser Parodie einer Zeugniskonferenz beizuwohnen. Als die Konferenz zu Ende war, bekam sie gerade noch mit, dass letzten Endes nur Lemer Duruöz die Versetzung nicht geschafft hatte, alle anderen Wackelkandidaten, fünf an der Zahl, hatten durch die Gnade ihrer Fachlehrer die Oberstufe erreicht. Halleluja, es geschehen noch Zeichen und Wunder!
Sie konnte niemandem der Anwesenden ins Gesicht sehen. Sie wartete bewusst darauf, dass Schüttert und Diedrichs den Raum verlassen hatten, bevor sie sich selbst auf den Weg machte. Auch Wendland, der nun zur Zeugniskonferenz der 9b aufrief, würdigte sie keines Blickes. Sylvia flüchtete wieder auf die Toilette, schloss sich in einer Kabine ein, regelte sich runter und räsonnierte. Obwohl sie sich für widerstandsfähig und belastbar hielt, fühlte sie sich wie ein Soldat, der das Kriegsgebiet verlassen hatte und nun unter Schock stand. Sie ging wie bei einem Protokoll nochmal die Aussagen ihrer männlichen Gegenspieler durch und hielt bei Auffälligkeiten inne. Warum hatte der Chef sie gebeten, die Noten nochmal laut vorzulesen? Er hatte sie doch in der Klassenmappe vorliegen. Und warum hatte sie ihn nicht darauf hingewiesen, dass er sie vorliegen hatte? War sie wirklich so ungnädig, wie die Männer sie darstellten? Wirkte sie nun auf die Kollegen wie eine jähzornige, privat frustrierte Endzwanzigerin? Warum hatten die Kollegen nichts gesagt? Billigten sie diese Form der Nötigung? Fanden sie es nicht ebenso lächerlich, mit welchen Leistungen hier einige Schülerinnen und Schüler versetzt wurden? War sie zu idealistisch? Und was bedeutete das für ihre Zukunft an der Schule? Eine A14-Stelle konnte sie sich vorerst wohl abschminken.
Irgendwann hatte Sylvia sich soweit beruhigt, dass sie ihre Erschütterung vorläufig ablegen konnte. Ohnehin hatte sie noch zwei Zeugniskonferenzen zu überstehen, glücklicherweise aber von Lerngruppen, in denen sie kein Defizit gegeben hatte. Sie verließ die Toilette und wusch sich die Hände. Als sie die Papierservietten aus dem Spender zog, kam Frau Rösner, die Lateinlehrerin herein. Sylvia lächelte sie unverbindlich über den Spiegel an.
„Solltest du beim Wendland auch Noten ändern?“, platzte es sogleich aus Frau Rösner heraus.
Sylvia drehte sich um und lächelte ihre Kollegin an.
„Er hat’s zumindest versucht“, antwortete sie ehrlich.
„Ich sollte drei Noten ändern“, fuhr die Kollegin entrüstet fort. „Eine Note sogar um drei Punkte!“
Sylvia wollte sich eigentlich für den heutigen Tag nicht mehr mit dem Thema beschäftigen. Aber die Neugier übermannte sie dann doch.
„Und...hast du?“, fragte sie gespannt.
Frau Rösner fühlte sich ertappt.
„Was soll man denn machen?“, fragte sie resigniert. „Die machen so einen Druck.“
Sylvia vergaß einen Moment lang ihren Sinn für den Zusammenhalt unter Kollegen. Sie berührte Frau Rösner sanft am Arm, so dass diese ihr direkt ins Gesicht sah.
„Sag doch einfach Nein!“, meinte Sylvia und ließ ihre Kollegin stehen.
Als sie wieder im Erdgeschoß war und das Lehrerzimmer betrat, nahm sie sich fest vor, erhobenen Hauptes durch den Raum zu marschieren. Gleichzeitig aber war ihre mentale Haltung eine gebückte. Sie empfand die Wirkkraft ihrer höher besoldeten Kollegen als einschüchternd und hatte nicht die geringste Ahnung davon, wie man so raumgreifend ging wie ein Herr Wendland oder ein Herr Diedrichs. Und sie stand noch immer unter dem Eindruck des Geschehens.
„Sylvia?“
Wolfgang Paul stand freundlich lächelnd da und berührte sie kurz an der Schulter.
„Alles okay?“, fragte er besorgt. „Du siehst ein bisschen angestrengt aus.“
„Ach, ich habe eine leichte Erkältung“, gab Sylvia vor. Sie hätte sich eher ein Bein ausgerissen, als ihm die Wahrheit über ihren Gemütszustand zu erzählen. Immer wenn sie ihn sah, musste sie an die Woche denken, in der er in ihrem Unterricht hospitiert und anschließend in seiner Gutsherrenart banale Tipps gegeben hatte.
„Oh, das tut mir leid. Naja, wie dem auch sei, ich wollte dich wegen einer Schülerin aus meiner Klasse sprechen: Haleema Khan.“
„Ist doch eine Top-Schülerin“, erwiderte Sylvia. „Wo ist das Problem?“
„Kein Problem“, gab Herr Paul behutsam zurück, „im Gegenteil. Sie ist ausgewählt worden für ein Stipendium der Hilde-Seifert-Stiftung.“
„Schön für sie“, ätzte Sylvia zurück und bereute es sogleich. Ihr Ärger ging in die falsche Richtung. „Entschuldigung“, sagte sie dann. „Das ist wirklich eine gute Nachricht. Wie kann ich helfen?“
Herr Paul überging Sylvias kurzen Aussetzer und holte Luft.
„Also, das Stipendium wird von der Stadt verwaltet, da die Stiftungsgründerin mittlerweile verstorben ist. Laut der Statuten hängt die Bewilligung der Fördergelder von einem aussagekräftigen Finanz- und Förderplan ab, der von einem ihrer Fachlehrer erstellt werden sollte. Ich betreue bereits zwei Schüler bei einem anderen Stipendium und Haleema hat mal in einem Nebensatz erwähnt, dass du ihre Lieblingslehrerin bist und da dachte ich..“
„Ich mach’s“, unterbrach ihn Sylvia sogleich, um das Gespräch abzukürzen. „Schick mir doch am besten die Informationen über dieses Stipendium per E-mail, dann schau ich mir das mal an.“
„Super, danke“, sagte Herr Paul. „Ich schick es dir heute noch, okay? Der Finanz- und Förderplan sollte bis Ende des Monats erstellt sein. Wenn du Fragen hast oder möchtest, dass ich nochmal drüber schaue, sag einfach Bescheid, okay?“
„Okay, mache ich.“
„Danke“, widerholte Herr Paul. „Super!“
Und weg war er. Ohne viel Federlesens hatte er auf Sylvias bereits überbordenden Arbeitsstapel noch etwas draufgelegt. Es fühlte sich an wie eine Kleinigkeit und doch bestand der ganze Beruf aus einer Flut an solchen Lappalien: Ein Schüler gab einem anderen Schüler einen Schubser im Flur, dieser Schüler stürzte, verletzte sich leicht und erzählte zuhause davon. Die Eltern riefen in der Schule an und fragten, was da los sei und warum denn niemand die aufkeimende Gewalt unterbinde. Der Schulleiter gab den Vorwurf an den Klassenlehrer weiter, dieser bezog die Fachlehrer mit ein und ermahnte sie, jeden noch so kleinen Vorfall dieser Art künftig zu melden und sofort zu intervenieren. Eltern, Schüler, Lehrer und Vorgesetzte beraumten untereinander Gespräche an, die SV entwarf einen Verhaltenskodex für alle Schüler, Sozialarbeiter kamen und gaben Anti-Aggressionstraining oder Power-Point Präsentationen zum Thema Gewalt. Oder: Ein Schüler schrieb bei einem anderen Schüler die Hausaufgaben ab, der Lehrer trug dies ins Klassenbuch ein, der Schüler fühlte sich stigmatisiert, behauptete, nicht er habe abgeschrieben, sondern bei ihm sei abgeschrieben worden. Wieder folgten Gespräche, Gespräche und noch mehr Gespräche. Zwischen diesen Gesprächen flatterten Unmengen Vokabelteste, Klassenarbeiten und Klausuren auf den Schreibtisch, und zehn Minuten nachdem diese geschrieben waren, fragten die Schüler schon, wann sie denn diese Manifeste ihres eigenen Unvermögens zurück bekämen, als wäre jeder Lehrer nur für sie da und hätte keine anderen Schüler oder Klassen. Ständig versuchte Sylvia den einzelnen Schüler in den Blick zu nehmen, ihn individuell zu fördern, ihn in seiner ganzen Persönlichkeit, in seiner Komplexität wahrzunehmen und gleichzeitig ihren eigenen Unterricht zu optimieren, ihn spannender und vielseitiger zu gestalten. Erst langsam realisierte Sylvia, dass Schule ein Apparat war, der schnell heiß lief und dann kaum auf Normaltemperatur zu bringen war. Als Lehrer musste man ständig aufpassen, dass man sich an diesem Apparat nicht die Finger verbrannte und das ging nur über Distanz. Distanz zum eigenen Handeln, Distanz zum gelegentlich verletzenden Verhalten der Schüler, und viel wichtiger noch, Distanz zum eigenen Anspruch. Wenn man mit einer vollen Stelle nicht völlig draufgehen will, so hatte Sylvia mittlerweile verstanden, dann war man gut beraten, wenn man sich eine gesunde Faulheit antrainierte und den Blick fürs Wesentliche schärfte. Aber dann kam so eine Schülerin wie Haleema um die Ecke, eine Schülerin, die Sylvia wirklich schätzte und unterstützen wollte und dann sagte man eben: Ja, ich helfe.
Und man half. Aber nicht sich selbst.
Nach zwei weiteren Konferenzen ohne besondere Vorkommnisse fuhr Sylvia am frühen Abend nach Hause. Draußen wurde es langsam dunkel, aber der Tag war für Sylvia noch nicht zu Ende. Fünf Stunden für den nächsten Morgen waren vorzubereiten und zwei abgegebene Hausaufgaben lagen noch auf ihrem Schreibtisch. Aber als Sylvia durch die Wohnungstür schritt, da wurde ihr klar, dass sie nichts mehr tun konnte und nichts mehr tun würde. Sie zog ihre Hose und das Hemd aus, streifte die Stiefel ab und schlüpfte in ihre Joggingsachen und die Hausschuhe. Sie torkelte ins Wohnzimmer und fläzte sich zu Marc, der gerade die vierte Staffel von The Wire im Original guckte, auf die Couch.
„Und wie war’s“, fragte er ehrlich interessiert und hielt seine Serie an.
Doch Sylvia hatte keine Lust zu erzählen. Sie fürchtete die wohl gemeinten aber völlig fehlplatzierten Ratschläge ihres Freundes, der glaubte, ihren Beruf zu kennen, weil er mal Schüler gewesen war. Aber ihren Perspektivwechsel hatte er nie vollzogen. Diese andere, dunkle Seite der Macht hatte er nicht kennengelernt.
„War gut“, sagte Sylvia also lapidar und wartete darauf, dass Marc den Fernseher wieder aktivierte. Als er dies tat, sah Sylvia zu ihrem Erstaunen, dass die aktuelle Folge der Serie in einer amerikanischen Schule spielte. Es ging um Drogen, völlig kaputte Elternhäuser, gewaltbereite Schüler, Lernen für standardisierte Tests und völlige heruntergekommene Schulgebäude in Baltimore, Maryland. Oder wie die meist afroamerikanischen Schüler in der Serie sagten: Bodymore, Murderland. Der Anblick dieser wenn auch fiktiven, so doch realitätsgetreu aufbereiteten Zustände des Bildungssystems in den Vereinigten Staaten brachte Sylvia erneut ins Grübeln. Vielleicht erwarte ich zuviel von diesen Kindern. Wie soll man unseren Schülern auch das Gleiche abverlangen wie Schülern im Süden der Stadt, wenn die familiären und kulturellen Hintergründe doch ganz andere sind? Aber was erreicht man, wenn man andere Maßstäbe anlegt? Man macht die Schüler glauben, sie könnten an einer Uni studieren und dann scheitern sie dort brutal, weil ihnen das Rüstzeug fehlt. Aber es ist ja dann nicht mehr unser Problem, nicht wahr? Nein, es ist und bleibt unehrlich. Was Herr Diedrichs da treibt, ist letzten Endes nichts anderes als Bilanzfälschung. Wir feiern Erfolge, die keine sind.
Das kann und darf so nicht weitergehen.