Sehnsucht nach den Wolken

Bild zeigt René Oberholzer
von René Oberholzer

Es ist Mittag. Die Sonne steht am höchsten Punkt. Es ist heiss. Einige Wolken am Himmel. Unbedeutend. Anna steht im Türrahmen, schaut über die Weide zum Wald hinüber. Annas Mann ist den ganzen Tag unterwegs. Sie kennt ihn seit ihrer Jugend. Ihr Haus liegt abgelegen, das nächste Haus ist ein Kilometer entfernt. Anna trägt einen Morgenmantel aus Seide. Er bedeckt ihre wohlgeformten Brüste. Nur 2 Handgriffe wären nötig, und man würde sie sehen. Anna und ihr Mann haben keine Kinder. Seine Spermien sind zu langsam. An diesem Mittwoch ist nichts los. Und in ihrem Leben passiert auch nichts. Anna wohnt in einem schönen Haus auf dem Land. Ein zweistöckiges, weisses Holzhaus, sie muss sich um nichts kümmern. Sie schaut den Wolken neidisch zu. Am liebsten würde sie den Morgenmantel ablegen und nackt über die Weide zum Wald schlendern.

Plötzlich taucht ein Geräusch aus der Ferne auf, kommt näher. Ein Auto hält auf der Anhöhe. Ein Mann steigt aus. Muss sich verfahren haben. Der letzte Weg führt zu ihrem Haus. Und dann geht es nicht mehr weiter. Der Mann schaut zu Anna hinunter. Sie bindet sich den Morgenmantel zu. Der Mann auf der Anhöhe nimmt ein Fernglas hervor. Schaut zu Anna. Legt das Fernglas weg, steigt wieder ins Auto, dreht und fährt davon. Anna geht ins Haus. Merkwürdig, denkt sie.

Ihr Mann kommt abends nach Hause. Ist müde, sagt wenig, fragt, was Anna gemacht habe. "Nicht viel", sagt sie. "Ich war ein wenig draussen, habe den Wolken zugeschaut. Es war herrlich." Ihr Mann geht früh zu Bett. Anna ist noch nicht müde, sie hat am Morgen geschlafen. Sie denkt an den Mann im Auto, vergisst ihn wieder und schläft vor dem Fernseher ein, ihr Mann weckt sie morgens um 3 Uhr. Anna geht ins Bett und denkt: Etwas muss sich ändern, irgendwann.

Die Woche vergeht, am Wochenende fahren Anna und ihr Mann in die Stadt, schauen sich einen Film an. Nichts Weltbewegendes, gute Unterhaltung. Ihr Mann mag diese heiteren Filme.

Die neue Woche beginnt. Anna fährt in die Stadt. Geht einkaufen. Kauft ein paar neue Messer, kleine, von denen hat sie immer zu wenig. Natürlich auch Lebensmittel. Ihr Mann ist hungrig, wenn er nach Hause kommt. In einem anderen Geschäft schaut sie Vorhänge an. Fährt später nach Hause. Kümmert sich um den Garten. Dieses Jahr gibt es noch weniger Niederschläge als im Vorjahr. Der Garten gibt Arbeit, wirft einiges an Gemüse für den Eigenbedarf ab. Morgen ist Mittwoch, denkt sie, es soll wieder heiss werden.

Anna geht früh zu Bett, ihr Mann hatte noch von einem Projekt erzählt. Sie interessiert sich nicht gross für seine Arbeit. Sie mag ihn, er ist gut zu ihr, er sorgt für sie.

Am nächsten Morgen muss er früh aufstehen, ein Kuss zum Abschied, es wird wieder später werden. Sie steht wieder in den Türrahmen mit ihrem Morgenmantel aus Seide, fährt mit ihren Händen über ihre Brüste. Schliesst die Augen, als plötzlich ein Geräusch näherkommt, ein Auto erscheint auf der Anhöhe, hält an, ein Mann steigt aus. Soweit sie das sehen kann, ist es derselbe Mann wie letzte Woche. Der Mann geht die letzten Meter zu Fuss. Er nähert sich, Anna geht ins Haus. Zieht sich etwas über. Der Mann bleibt vor dem Haus stehen. Anna steht hinter dem Vorhang. Er kann sie nicht sehen. Der Mann klopft an die Türe. Anna hält die Türe geschlossen. "Was wollen Sie?", fragt sie. "Ich würde nur gerne das Haus meiner Grosseltern anschauen", ruft er. Nach einer Weile öffnet Anna langsam die Türe. Der Mann zeigt ihr ein Bild seiner Grosseltern vor dem Haus. "Kommen Sie doch herein", sagt sie und führt den fremden Mann ins Wohnzimmer. Die beiden kommen ins Gespräch. Er zeigt Anna weitere Bilder und erzählt von seiner Grossmutter.

Anna zeigt ihm einige Räume im Haus. "In diesem Zimmer habe ich geschlafen, als ich klein war", sagt der Mann. "Am Mittwoch waren wir manchmal zu Besuch bei meinem Grossvater. Aber das ist lange her. Während der Mittagszeit legten sich meine Mutter und ich immer ein wenig hin. Meine Mutter legte dann den Arm um mich. Sie ist vor einem Monat gestorben." Plötzlich sagt der Mann, der sich John nennt: "Ich habe mich gefreut, ich würde gerne noch ein paar weitere Mittwoche kommen und Abschied nehmen von meiner Mutter und meinen Grosseltern." Anna sagt: "Das ist in Ordnung."

John kommt eine Woche später wieder, auch die folgenden Wochen. Und als Anna eines Tages den Arm um ihn legt, sagt John: "Ich danke dir, jetzt habe ich Abschied genommen, ich werde nie mehr zurückkehren." Anna lässt ihn gehen, schaut ihm nach, wie er zur Anhöhe hinaufschreitet, ins Auto steigt und davonfährt. Anna steht da im Morgenmantel, im Türrahmen, wie vor einigen Wochen, fährt sich mit den Händen über die Brüste.

Am folgenden Mittwoch erscheint John nicht mehr. Anna schaut den Wolken zu, sie sind wie John, denkt sie. Irgendwann legt sie den Morgenmantel ab, schlendert nackt über die Weide zum Wald, kehrt um, kommt zurück zum Haus, als wäre nie etwas gewesen.

© René Oberholzer, 2020

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