„Watte, ich habe nur Watte im Kopf.“
Bei einem Glas Rotwein genießen Theresa, meine ältere Schwester, und ich die Ruhe nach dem weihnachtlichen Sturm.
„Ich wollte doch so gerne wieder schreiben, aber die ganze Fantasie ist futsch, da ist nur Watte.“
„Wie sieht die Watte denn aus?“
Fragt Theresa ganz pragmatisch.
„Bunt, ganz bunt, sie hat alle Farben.“
„Na, das ist doch schon was. Lass dich mal hineinfallen in deine bunte Watte.“
Irritiert sehe ich Theresa an.
„Wie ein Kind in ein Bällebad.“
Brav schließe ich die Augen und lasse meinen Geist in die bunte Watte sinken.
„Was siehst du?“
„Christbaumkugeln. Ein Bällebad aus Christbaumkugeln. Pink, lila, silbern, türkis. Blinkende Lichter, fliegende Engel. Da ist Musik, ‚Last Christmas…‘“
„Kein Wunder bei diesem Horrorbaum …“
„Den hab‘ nicht ich geschmückt, das waren unsere Söhne.“
„Deiner! Meiner macht so etwas nicht.“
Wir lächeln uns an. Denken zurück an die Zeit, in der unsere Jungen noch Kinder waren. Fast gleichaltrig, unzertrennlich und für jeden Unsinn zu haben. Und immer, wenn etwas zu Bruch gegangen war, sagte Theresa:
„Das war deiner, meiner macht so etwas nicht.“
Meistens hatte sie recht.
So war es auch Nils‘ Idee gewesen, den Familientannenbaum mit den kitschigsten Kugeln auszustatten, die er bekommen konnte. Engelsfiguren, Weihnachtsmänner und blinkende Lichterketten machten sein Kunstwerk komplett. Wenn er den roten Knopf auf der Fernbedienung drückte, drehte sich der Baum und sang ‚Last Christmas‘.
Tja, das war meiner. Theresas macht so etwas nicht. Der spielt lieber Klavier. Boogie Woogie am Heiligen Abend. Malte, Erkan und Luca, die Söhne unserer inzwischen erwachsenen und leider alleinerziehenden Söhne, rockten durch das Wohnzimmer und waren völlig aus dem Häuschen.
„Klapp die Augen wieder dicht“
sagt Theresa,
„was siehst du noch in deiner Watte?“
„Legosteine, tausende.“
„Kein Wunder, du schüttest die Kids ja auch damit zu.“
„Lucas Duploeisenbahn sehe ich auch. Sie fährt im Kreis, sie pfeift und singt ‚Last Christmas‘. Zusammen mit dem Baum. Hakan und Nils bauen eine Hochbrücke aus Duplosteinen. Wohl um zu sehen, ob der Zug die Steigung schafft oder entgleist. Beide, deiner UND meiner.“
Theresa grinst und schickt mich abermals in die eigenen Tiefen. Ein anderes Bild baut sich jetzt vor meinem inneren Auge auf. Ein Mann, ganz in grün, mit einer ebenso grünen Haube und einer Gesichtsmaske.
„Wachen Sie auf, Frau Ka. Die OP ist vorbei. Ist alles gut gelaufen.“
Obwohl er eine frohe Botschaft verkündet, macht mir dieser Mann Angst. Ich zittere am ganzen Körper. Eine zweite grüne Gestalt schiebt sich in mein Blickfeld und hüllt mich in eine vorgewärmte Decke. Dann schwebt ein Engel heran. Feines silberblondes Haar, geschlossene Augen, Harfenklänge. Panisch kämpfe ich mich an die Oberfläche.
„Alles gut, Baby…“
In Theresas Armen zittere ich immer noch.
„Es war doch nur ein kleiner Eingriff. Am nächsten Tag warst du schon wieder zu Hause.“
„Und der Engel?“
Zu tief sitzt die Angst, die durch die Krankheit entstanden ist.
„Wahrscheinlich hast du Melly gesehen. Erinnerst du dich nicht mehr an die Weihnachtsfeier von Maltes Schule? Das blinde Mädchen, das sein Debüt an der Harfe gab. Allerdings war das keine Sphärenmusik, sondern es klang, als würde die Kleine den ganzen Frust ihres Lebens aus sich herausschleudern.“
„Ja, ich weiß, das war eine wilde Angelegenheit. Und Malte hat mit dem Schlagzeug das Seine dazugetan.“
„Siehst du,“
sagt Theresa und streichelt meine Schulter,
„du hast so viel Stoff zum Schreiben in deiner Watte. Du musst dich nur entspannen, dann kommen die Geschichten auch wieder.“
„Darum geht es nicht. Geschichten habe ich, aber es sind im Moment nur Familiengeschichten und damit möchte ich meine Leser auf LiteratPro nicht langweilen. Und die Krankheit möchte ich auch nicht ewig zelebrieren. Gedichte will ich schreiben, Sonette, verschrobene Texte, literarisch wertvoll.
„Ach, weißt du …“
Theresa hebt ihr Glas mit der linken Hand – mit dem rechten Arm hält sie mich immer noch fest –
„was ist die Literatur gegen das Leben?
Gegen Kinder und Weihnachtsbäume,
blinkende Lichter und Engelsträume,
gegen Würstchen mit Kartoffelsalat,
Duplobahn in voller Fahrt,
Rotweinglas im freien Fall,
Boogie Woogie überall.
Prost Susannchen!“
„Prost Schwesterherz.“
Watte im Kopf oder 'Last Christmas'

von Susanna Ka
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