Rein zufällig fand ich dich auf dem Dachboden zwischen dem alten Plunder neben den zwei kopflosen Puppen, neben dem verstaubten Jugenstilkästchen aus Pappe, in dem dermaleinst Freundschaftskärtchen gesteckt haben, die mithilfe von Federkiel und Tinte von Hand mit zierlicher gestochen scharfer Schrift beschrieben worden sind. Da stehst du nun vor mir. Ich kenne dich mein Leben lang, schon beim Großvater - nein, ein Opa war er nicht - standest du auf dem Schreibtisch. Bewundert habe ich dich damals, du strahltest etwas erhaben Unberührbares aus. Später verschwandest du aus meiner Erinnerung. Beim Aufteilen des Erbes bist du übrig geblieben und eher ungewollt in meinen Besitz geraten. Unwissend und, ja, lieblos habe ich dich auf dem Speicher abgestellt. Kitsch, dachte ich, auf den Flohmarkt damit, irgendwann, die Kinder wollen den alten Kram nicht, ein paar Euro wird er wert sein. So viel Ignoranz! Beim Ausmisten bist du mir wieder in die Hände geraten. Jetzt betrachte ich dich zum ersten Mal genau und rufe begeistert aus: Wie schön du bist! Zugleich frage ich mich – wer bist du denn? Nicht erfolgsorientiert und eher lustlos blättere ich im Internet, und plötzlich stehst du vor mir oder einer deiner vielen Brüder. Narciss heißt du also, das passt genau, ein selbstverliebter „heranwachsender Knabe“. Ideal schön zweifellos, hohe schlanke Beine, der Lockenkopf von einem mit Trauben geschmückten Reif gehalten, mit sinnlichen noch kindlichen Gesichtszügen. Leicht nach vorne geneigt stehst du lässig vor mir, 40 Zentimeter bist du hoch, der rechte Arm angewinkelt, um die in der Hüfte aufgestützte Linke ist ein über der linken Schulter verknotetes Ziegenfell gewickelt. Wahrscheinlich bist du wie deine vielen inzwischen verschütt’ gegangenen Zwillinge ein Bronzehohlguss und im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden. Ich bewundere deine Schuhe, die einzige Bekleidung, hauteng anliegend knöchelhoch mit Blumenmuster verziert, sicher aus feinstem Leder, die Zehen schauen heraus. Die Insignien deiner Männlichkeit klein, aber ansehnlich. So stehst du schon seit mehr als 150 Jahren nackt auf deiner Plinthe, bist eng mit meiner Familie verbunden und wurdest von mir so gering geschätzt. Entschuldigung, das wird sich ändern, nicht etwa, weil ich weiß, dass du ein paar tausend Euro wert bist, nein, weil ich etwas gut zu machen habe an dir, mein lieber junger und doch so alter narzisstischer Knabe. Dein Schattendasein ist beendet, ab jetzt thronst du auf meiner Biedermeierkommode direkt neben dem mir heiligen Krokodil mit aufgerissenem Maul aus Pappmasche, das mein jüngster Sohn zehnjährig modelliert hat. Und ich werde dich allen Besuchern lobend und stolz vorführen. Salve, Narciss! Besser spät als nie? Verzeihst du mir??
Die Skulptur des sog. Narziss, die in Pompeji im 1. Stock einer antiken Weberei gefunden wurde, erfreute sich insbesondere in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgesprochener Beliebtheit und wurde in mehreren Werkstätten nachgegossen. Tatsächlich ist wohl nicht der sein Spiegelbild betrachtende Narziss dargestellt, sondern der jugendliche Gott Dionysos, der mit einem zu seinen Füßen zu denkenden Panther spielt. Das Original ist eine römische Kopie nach einem späthellenistischen Vorbild.