Von einem geglückten Wohnungstausch, vielleicht unser letzter.
13. - 28. August 2014
Der 1600-Seelen-Ort Burggen gehört zu Oberbayern und liegt im östlichsten Teil des Allgäus.
Dieses Dorf war der eigentliche Zentralpunkt unserer Deutschlandreise 27. Juli - 02. September 2014.
Seitdem meine Frau Gullan und ich das Reisen mit Wohnungs-/Haustausch 2006 für uns entdeckten, suchten wir Tauschpartner in einem idyllischen Ort im Allgäu als Basislager für Ausflüge. Wir wollten unbedingt noch einmal die Orte wiedersehen, an die wir von unserem gemeinsamen Sommer 1970 schöne Erinnerungen haben, vor allem Ravensburg, wo wir arbeiteten, wohnten, uns kennenlernten. Wir fanden aber einfach keinen willigen bzw. passenden Tauschpartner in diesem schönen Teil der Erde.
Ausgerechnet ein Tauschpartner von Adelaide in Australien verhalf uns 2013 zu einem Kontakt.
Bevor dieses Ehepaar zu uns nach Schweden kam, wohnte es zwei Wochen in einer schönen Wohnung, mit Blick auf die Alpen, in einem ländlichen Ortsteil von Sonthofen. Wir schickten eine Anfrage an die Besitzer dieser Wohnung und siehe da, sie waren an einem Tausch mit uns interessiert. Da wir aber nach über einem Jahr noch immer keine definitive Zusage bekamen, versuchten wir es noch einmal über die Vermittlungswebsite Homelink. So fanden wir unseren Tauschpartner in Burggen.
Wir suchten - und fanden - zwei weitere Tauschpartner, damit die Strecke von Schweden nach Burggen mit dem Auto sich nicht so lang anfühlt.
Zum einen ein Haus im 500-Seelen-Dorf Mehrow,
20 km von Stadtmitte Berlin, siehe https://www.literatpro.de/gedicht/300516/barnimer-feldmark
Zum anderen eins in Hirschbach (auch ca. 500 Einwohner), 20 km von Dresden, 150 km von Prag, das wir besuchten. (In Prag ereilte uns unser bisher dümmstes Missgeschick aller Kategorien, siehe http://www.literatpro.de/gedicht/170116/zwischen-karlsbruecke-und-altstaedter-ring)
Die 550 km lange Fahrt von Hirschbach nach Burggen war die längste Teilstrecke unserer Reise. In diesem Bericht beschränke ich mich auf den Ort Burggen, die Ausflüge lasse ich hier weg.
Ich sage es gleich am Anfang: Der Aufenthalt in Burggen hat mich gefühlsmäßig stark beeindruckt.
Ich wohnte wieder in einem Dorf, in dem Kleinbauern ihre Kühe am Abend zum Melken in die Ställe im Dorf trieben. So wie ich das vor 65 Jahren in Segringen bei Dinkelsbühl machte. Der Unterschied lag darin, dass der Treiber mit dem Moped oder Auto hinter den Kühen herfuhr, ich machte das zu Fuß - und barfuß.
Die Bauern hier in dieser grünen, hügeligen Gegend betreiben fast ausschließlich Milchwirtschaft. Nur einige Schritte von "unserem" Haus begannen die Wiesen, auf denen Kühe grasten. Jeden Morgen vor dem Frühstück machte ich meinen Spaziergang durch die Wiesen und fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. Wenn ich durch das Dorf ging und Misthaufen vor dem Haus/Stall oder frische Kuhfladen auf der Straße sah, war ich ganz happy. Ich glaubte nicht, dass es dies
überhaupt noch gab. Auf jeden Fall habe ich das in Segringen bei meinen letzten Besuchen nicht gesehen.
Wir wohnten ziemlich am Rande des Dorfes, wo sich Nichtbauern, die ländlich leben wollen, schmucke Häuser gebaut haben. Zwei, drei Häuser hinter unserem begannen die Kuhweiden und kleinere Wälder.
Auf den Bildern, die wir von unseren Tauschpartnern bekommen hatten, sieht man eine knapp fußballfeldgroße, grüne Wiese zwischen einem Bauernhof und ihrem Haus. Im Hintergrund leuchtet majestätisch die Alpenkette. Idyllisch, dachte ich, genau das suchten wir schon seit Jahren.
Eine Woche vor unserem Eintreffen in Burggen erhielten wir eine E-Mail von den Hausbesitzern. Wir befanden uns zu diesem Zeitpunkt in einem anderen Dorf, Hirschbach bei Dresden.
... noch ein offenes Wort, die grässliche Gras-Silage vor dem Haus wurde erst ganz neu auf die grüne Wiese gestellt ohne uns zu warnen oder informieren. Protest nützt nicht, die Bauern haben jede Menge Freiheiten hier. Von der unteren Wohnung sieht man nichts wegen der Hecke und Ihr seid ja auch viel unterwegs, falls das Wetter mitmacht, ich hoffe, sie stört Euch weniger als uns.
Heute weiß ich, was eine Gras-Silage ist. Ich habe sie von unserem Balkon genauestens studiert. Sieht nicht nur schlecht aus, sondern riecht auch nicht so gut für empfindliche Nasen, wegen des Vergärungsprozesses des dort gelagerten Grases. Das vergärte Gras dient also den Kühen als Futter. Diese Kühe sehen nie eine Weide, sie stehen in ihrem Stall und fressen Silage. Sie haben aber eine gewisse Bewegungsfreiheit in einem großen Gebäude. Diese Art der Viehhaltung wird scheinbar immer populärer, weil mehr Kühe mit weniger Aufwand versorgt werden können. So einen riesigen Stall und zwei Silagetröge hat dieser Bauer also auf seine schöne Wiese gesetzt, diese den zugezogenen Nachbarn sozusagen "weggenommen" und den Wert ihrer Häuser obendrein vermindert.
Wenn das mein Haus gewesen wäre, wäre ich auch sauer gewesen. Aber so saß ich auf dem Balkon, trank mein Weizenbier und sah mir das Treiben des Bauern und seiner Familie an. Und der Geruch war mir gar nicht so unangenehm, wie im Gärkeller einer bayerischen Weizenbier-Kleinbrauerei vielleicht. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass meine Frau sich auf dem schmalen aber schönen Balkon mit dem speziellen Ausblick hat blicken lassen.
Auf diesem Balkon, mit Aussicht auf Alpen und Silage, saß ich, wenn das Wetter es zuließ und wir nicht unterwegs waren. Ich dachte an "mein Dorf" Segringen und die Misthaufen dort, das Bauernpaar, bei dem ich mich wie zu Hause fühlte, an deren Tochter Elsa und ihren Mann Fritz, die den Hof später übernahmen, und formulierte ein weiteres Gedicht über meine Zeit als Kuhjunge damals bei ihnen ("Bauernkind", siehe unten). Es ist für Fritz gedacht, mit dem ich nicht oft aber regelmäßigen und guten Kontakt habe. Seine Frau Elsa lebt nicht mehr.
Die Heimreise von Burggen geht über Dinkelsbühl, wir werden Fritz dann besuchen. (Nachtrag: Fritz starb 2016, siehe Nachruf http://www.literatpro.de/gedicht/011116/fort-und-heimgefahren)
Das Haus war groß, zweistöckig, fast ganz aus Holz, einschließlich Wände und Decken, die auch noch mit dicken Balken versehen waren. Es hatte zwei komplett eingerichtete Wohnungen. Wir wohnten in der oberen, benutzten aber die besser ausgestattete Küche der unteren. Außerdem wollten die Besitzer nicht, dass wir in deren Betten unten schlafen, und nur oben gab es einen Fernseher. Es war zwar etwas umständlich mit der Treppenspringerei aber es war kein Problem. Wir sind zwar schon über 70 aber noch gut auf den Beinen. Es war wie schon an die 20mal vorher in Australien und Neuseeland: Wir passten uns schnell den Gegebenheiten in dem neuen Zuhause an und fühlten uns auch hier sehr wohl. Von den Nachbarn merkten wir, bis auf ein paar herrlich spielende Kinder, so gut wie nichts.
Bei meinen morgentlichen Spaziergängen kam ich aber mit einigen Leuten ins Gespräch. Mit einer Dame (85) beim "Nordic Walking" hatte ich ein längeres, angenehmes Gespräch am Wegesrand unter einem herrlich blauweißen, bayerischen Himmel. Sie erzählte mir u. a., dass sie nie wegfährt "weil es hier so schön ist". Ich brauchte mich nicht zu verstellen, um ihr zu antworten: "Da haben Sie vollkommen recht." Sie lud mich ein, sie und ihren Mann zu besuchen in ihrem schönen Haus auf einer Straße mit dem schönen Namen "Zugspitzstraße". Die war gleich bei uns "um die Ecke". Vielleicht schicke ich ihr mal eine Karte, dachte ich.
Als ich an einem anderen Tag mitten im Dorf einen sehr blumigen Bauernhof bestaunte, kamen die Jungbäuerin und ihre Schwiegermutter gerade aus dem Haus, um zu ihren Kühen zu schauen. Ich fragte sie, ob ich das Haus fotografieren durfte. Sie fragte erstaunt: "Warum?". "Weil es so schön ist", antwortete ich. Sie lächelte etwas verwundert, vielleicht auch mit (berechtigtem) Stolz, und ich erzählte ihr meine Geschichte als Kuhjunge und dass ich mich freue, dass es noch Bauern und Kühe in diesem Dorf gibt. Sie bewirtschaftet den Hof mit ihren Schwiegereltern. Ihr Mann arbeitet bei einem Metzger im Nachbarort, der auch den kleinen Supermarkt in Burggen beliefert.
Gleich neben ihrem Hof gibt es ein Schlachthaus und eine kleine Molkerei, vor der Katzen
Milchpfützen aufschleckten. In dem gut sortierten Laden hier im Dorf kann man diese örtlichen Produkte kaufen. Eine Hausbäckerei gibt es ein Stück weiter.
Das Wetter in den zwei letzten Augustwochen war meist kühl und regnerisch, wie fast in ganz Europa nördlich der Alpen. Wir erhielten besorgte Mails von unseren Tauschpartnern, die gleichzeitig in unserer Wohnung in Åmål wohnten:
...nun zu unserem Haus und zur Heizung. Sie läuft nicht, Holz für den Ofen ist auch kaum da aber meine Nachbarin (unser Holzlieferant) bringt bei einem Kälteeinbruch ein paar Scheite vorbei. Die Heizung könnt Ihr natürlich auch anmachen, wenn es sein soll. Christian, unser Gegenüber, kennt sich mit der Heizung aus, er ist Installateur und hat sie schon gewartet.
...nun bereitet uns die Nachricht unseres Sohnes Sorgen, dass es sehr kalt geworden sei. Üblicherweise haben wir die Zentralheizung bis Anfang Oktober ausgeschaltet. Morgen früh werde ich telefonisch den Christian zu Euch rüberschicken (heute abend war er nicht zu Hause). Er soll die Heizung einschalten und die Ventile für die Zimmer aufdrehen. Da es eine Fußbodenheizung ist, wird es allerdings ca. 2 Tage dauern, bis die Wirkung zu spüren ist. Ich hoffe, Ihr erfriert uns
nicht.
Der Christian kam tatsächlich aber keine Wärme vom Fußboden für den Rest unseres Aufenthaltes. Wir hatten in etwa die gleiche Temperatur drinnen wie draußen, ca. 16 Grad. Wir verfeuerten das Holz, das vorhanden war, im Holzofen der unteren Küche und gingen abends früh zu Bett, das Fensehen hatte uns nichts zu bieten. Das machte aber absolut nichts. Wir hatten eine ähnliche Situation schon einmal: In Tasmanien, Australien. Die Tage waren warm, die Nächte kalt. Das unisolierte Wochenendhaus passte sich den jeweiligen Temperaturen ohne Verzögerung an. Es gab zwar einen offenen Kamin, den wir aber nicht benutzen wollten. Das Risiko war uns zu groß. Wenn das große "Drumherum" stimmt, dann haben nebensächliche Kleinigkeiten keine Bedeutung. Und das wichtige Drumherum stimmte sowohl in Tasmanien als auch in Burggen!
Wir schickten unseren besorgten Tauschpartnern eine freundliche Mail zur Beruhigung. Sie hatten wohl mehr Kummer betreffend der Heizung als wir.
Wir hatten jedoch auch einige warme, sonnige Tage. Diese nutzten wir für unsere geplanten Nostalgieausflüge nach Ravensburg, Lindau, Schloss Linderhof, Oberammergau, Garmisch Partenkirchen, zum Kloster Ettal und zur Wieskirche, die prächtige "Wallfahrtskirche zum Gegeißelten Heiland auf der Wies". Wir besuchten aber auch für uns neue Orte und Plätze im Allgäu und im österreichischem Lechtal. Der zweite Besuch seit 1975 in Ravensburg, der "Geburtsstadt" unserer Zweisamkeit, war der Höhepunkt unserer Ausflüge. Wahrscheinlich war dieser schöne Besuch in Ravensburg auch unser letzter.
Unser lang ersehnter Wunsch für einige Zeit in einem "eigenen" Haus im Voralpenland mit Alpenblick zu wohnen, hatte sich erfüllt. Wir sind unseren Tauschpartnern dankbar.
***
Bauernkind
In den schweren Nachkriegsjahren
waren viele zu bedauern.
Ich gehöre nicht zu jenen,
ich war Kühehüter eines Bauern.
Nach der Schule, in den Ferien
war ich ein Teil der Bauernwelt.
Ich hütete das Vieh des Bauern
oder fuhr mit ihm aufs Feld.
Er spannte Kühe vor den Wagen,
Traktor, Pferde hatte er nicht.
Er mähte Gras nur mit der Sense,
ich war dabei, ganz ohne Pflicht.
Heute, viel später, glaub ich schon,
dass er gern mich bei sich hatte.
Ich war für ihn so wie der Sohn,
den er niemals hatte.
Das Reich der Bäuerin war die Küche,
sie backte Brot und kochte Essen.
Ich spür noch heute die Gerüche,
nie werd ich sie vergessen.
Ein Satz des Bauern mir im Ohr ist:
"Willi, ob wir was zu essen kriegen?"
Wir bekamen Essen, nie zu wenig,
und teilten es mit tausend Fliegen.
Tochter Elsa war hübsch und richtig,
und frisch verlobt zu dieser Hoch-Zeit
mit ihrem Fritz, nicht minder tüchtig.
Ich streute Blumen bei der Hochzeit.
Bei meinen Kühen auf der Weide
ging ich barfuß so wie sie.
Ich war ihr Leiter und Begleiter,
so stolz wie da war ich wohl nie.
Ein angenehmer Zeitvertreib
in diesen Stunden ganz allein,
war das Treten in die frische,
noch ganz warme, ja fast heiße,
weiche, grüne Rinderscheiße.
Bis neunzehnhunderteinundfünfzig
war ich ein freudig Bauernkind.
Ich an die Dorfkindheit oft denk
und danke Gott für das Geschenk.
(Spontan geschrieben an einem warmen Tag auf dem Balkon eines schönen Hauses in Burggen bei Schongau, August 2014)
***
© Willi Grigor, 2014 (Rev. 2017)
Prosa und Gedichte:
https://www.literatpro.de/willi-grigor