Es war ein kalter mondloser Abend, der letzte im Oktober. Noiry schmiegte sich in den Schatten einer Maurer. Schon seit geraumer Zeit beobachtete sie die große Doppeltür in dem Haus auf der anderen Straßenseite. Immer wieder kamen Leute und wollten hinein. Aber jedes Mal trat eine hohe Gestalt aus einer Nische neben der Tür und entschied, wer hindurch durfte, und wer nicht. Und Noiry sah so manchen Abgewiesenen sich fluchend und schimpfend seines Weges trollen. Ohne den Schatten zu verlassen schob sie sich näher heran. Sie glaubte, in der Nische neben der Tür den Kopf eines Schakals zu erkennen.
Anubis ??? Was hatte der denn hier zu tun? Hinter dieser Tür lag doch gewiss nicht das ägyptische Totenreich.
Als Anubis wieder einmal ins Licht trat, um ein paar Neuankömmlinge zu prüfen, erkannte sie ihn ganz deutlich. Der hohe Kopf mit den spitzen Ohren, die langgezogene Schnauze und das kurze ägyptische Gewandt, das die muskulösen Oberschenkel freiließ.
‚Sexy, der Bursche …‘
Noiry grinste in sich hinein.
Dann öffnete sich die Tür wieder und sie sah dahinter ein flackerndes Licht. Es flackerte im Takt starker Beats.
„Highway to Hell …“
schrie jemand über diese Beats hinweg und Gitarren jammerten schrill und verstimmt.
„Highway to Hell, yeih yeih yeah …“
Doch?
War Anubis doch am richtigen Platz?
Noiry beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie strich ihren Catsuit glatt, zupfte das Dekolletee zurecht und versuchte, irgendeine Ordnung in ihr rappelkurzes schwarzes Haar zu bringen. Zweifelnd betrachtete sie ihre Turnschuhe. Schwarz, wie alles, was sie trug, aber mit Strass-Steinchen und rosa Blümchen.
Alle Frauen, die der Wächter durch die magische Tür gelassen hatte, waren auf hohen Absätzen hindurch gestöckelt. Einige hatten sogar Schwierigkeiten gehabt, sich im Gleichgewicht zu halten. Noiry konnte das nicht verstehen. Wie wollten diese Frauen denn rennen, wenn Gefahr drohte?
Mutig trat sie aus dem Schatten heraus und überquerte mit wiegenden Hüften die Straße. Als sie in den Lichtkreis der Lampe über der Tür trat, löste sich Anubis aus seiner Nische. Das goldene Anch um seinen Hals funkelte im Licht.
„Masa el-cheer Anubis.“
Noiry senkte respektvoll den Kopf, in der Hoffnung die richtige Anrede zu benutzt zu haben. Gleichzeitig zog sie seinen Geruch ein. Das war nicht Anubis, er roch nach Mensch. Ja, nach Mann, sehr nach Mann, aber er war kein Gott. Als sie den Kopf wieder hob trafen sich ihre Blicke. Dann musterte Anubis sie von oben bis unten. Den Catsuit, der ihren Körper wie eine zweite Haut umgab und ihre Rundungen perfekt zur Geltung brachte. Und ihre Turnschuhe.
Er grinste.
„Wie alt bist du?“
„320 Jahre,“
antwortete Noiry mit zitternder Stimme. Und als sie sah, wie er die Stirn runzelte, setzte sie schnell hinzu:
„und ein halbes.“
Anubis grinste.
„Na gut, du darfst hinein. Aber wenn dir jemand an die Wäsche will oder an deinen entzückenden Anzug, rufst du mich, verstanden?“
Sie nickte.
Als Noiry von dem hellen Vorplatz in das Innere der Diskothek trat, wähnte sie sich wirklich in der Hölle. Dunkelheit umfing sie wie ein Mantel, aus dem sie sich nicht befreien konnte. Lärm brach über sie herein wie harte Schläge, und wieder dieses Kreischen, diese missgestimmten Gitarren …
„Highway to Hell“
Ja, so musste es wohl sein auf dem Weg zur Hölle.
Farben zuckten wild durch den Raum und über hundert seltsame Gestalten stampften im Rhythmus der Trommelschläge. Unter Noirys Turnschuhen bebte der Boden. Eine Woge üblen Geruchs überrollte sie. Nach Mensch, nach Schweiß, nach Alkohol und nach etwas, das sie nicht kannte. Wie um Halt zu suchen, streckte sie eine Hand zur Seite aus. Schon umfasste jemand ihre Taille, zog sie in den Dunst seines Körpers und flüsterte:
„Keine Angst, ich pass‘ auf dich auf.“
In Panik schlug Noiry um sich und streckte einen jungen Vampir zu Boden. Doch schon hielt sie ihm die Hand entgegen und zog ihn wieder hoch.
Was war denn das?
Irritiert starrte sie den Jungen an. Sein Gebiss mit den Eckzähnen war durch den Sturz – oder durch Noirys Hieb – verrutscht und hing schief aus dem Mund. Gelassen rückte er es wieder gerade.
„Das passiert öfter, ist eben keine Maßanfertigung.“
Und als er Noirys verwirrtes Gesicht sah, fügte er mit einer übertriebenen Verbeugung hinzu:
„Gestatten - Wladimir, Draculas Sohn.“
Galant nahm er ihre Hand und drückte, trotz des verrutschten Gebisses einen Kuss darauf. Noiry lachte. Das erste Mal seit vielen Jahren brach sie in ein glockenhelles Gelächter aus. Waren die Menschen denn verrückt geworden? Erst dieser überhebliche Kerl an der Tür, der tat, als wäre er der Gott Anubis persönlich, und nun dieser kleine Möchtegern-Vampir mit dem schiefsitzenden Gebiss, der nichts weiter war, als ein Junge, auf der Suche nach dem ersten Abenteuer.
Wie Noiry war Wladimir ganz in Schwarz gekleidet. Sein Gesicht war weiß geschminkt, wie das eines Clowns und die Eckzähne saßen schon wieder schief. Mit roter Farbe hatte er sich so etwas wie Blut um den Mund geschmiert.
„Du bist ein unsauberer Esser,“
Noiry strich ihm mit dem Finger um den Mund, wie eine Aufforderung zum Kuss … der er unverzüglich nachkam. Blitzartig fuhr sie ihre Fangzähne aus und hackte sie dem armen Jungen in die Unterlippe. Blut und Speichel flossen, Noiry leckte und … spie im hohen Bogen Wladimirs Lebenssaft wieder aus.
„Pfui Geier, wie schmeckst du denn!!!“
„Sorry, das ist das grüne Zeug.“
Und ehe Noiry reagieren konnte, drückte er ihr ein Glas mit einer giftig grünen Flüssigkeit in die Hand. Ein rosafarbener Strohhalm beschrieb einen eleganten Looping und reckte sich ihrem Mund entgegen. Sie schloss die Lippen darum, saugte, schmeckte und … schluckte.
In ihrem leeren Magen begann es sofort zu brennen und zu brodeln, Alkohol stieg ihr wieder in die Kehle hinauf. Ein widerlicher Geschmack nach Zucker und einer unbekannten Substanz. Schnell reichte sie das Glas an Wladimir zurück. Keinen einzigen Schluck mehr, die Welt begann schon jetzt zu schwanken. Wenn sie die Kontrolle verlöre, könnte das ihr Tod sein.
„Lass uns tanzen …“
Ohne auf ihren Widerstand zu achten, zog Wladimir sie mit sich auf die Tanzfläche. Die Musik dröhnte, kreischte und wummerte.
„Thunder!“
Schrien die Menschen jetzt und sprangen donnernd auf und ab.
In Noirys Magen und in ihrem Kopf ging es drunter und drüber. Sie sah die Menschen – nein, sie sah Zombies, die sich Ruß um die Augen geschmiert hatten, Vampire, denen die falschen Eckzähne bei jeder Bewegung aus dem Mund rutschen und sie sah merkwürdige Spukgestalten, die sich in weiße Bettlaken gehüllt hatten… und alle sprangen auf und nieder und schrien:
„Thunder!!!“
‚Welch eine Anmaßung,‘
dachte Noiry,
„aber wartet nur, das kann ich auch.“
Und mit vorgestreckten Fangzähnen stürzte sie sich auf die Tanzfläche, warf die Arme empor und sprang.
„Thunder!!!“
Der Hexentrank in ihrem Magen schwappte auf und ab und vernebelte ihre Sinne …
Zwei dunkle Gestalten kamen auf Noiry zu. sie merkte es nicht. Plötzlich drehte ihr jemand die Arme nach hinten, hielt ihren Kopf fest und steckte ihr ein Papierröhrchen in die Nase.
„Los, Kleine, zieh!!!“
Verzweifelt versuchte sich Noiry zu wehren, sie trat nach allen Seiten aus und schrie gellend. Eine Hand legte sich über ihren Mund, war plötzlich wieder fort, jemand packte sie, riss sie hoch und trug sie wie ein Kind aus dieser Hölle.
„Tut mir Leid, Baby, ich hätte dich da nicht hineinlassen dürfen.“
Vor der Tür stellte Anubis Noiry wieder auf die Füße. Tief atmete sie die frische Nachtluft ein.
„Danke. Wo ist Wladimir?“
„Hab ihn nach Haus‘ geschickt.“
„Ich will auch nach Hause.“
„OK, ich fahr dich.“
Er legt sanft den Arm um sie, nickte dem wilden Hades zu, der ihn an der Tür abgewechselt hatte, zu und führte sie zu seinem Wagen.
„Wo darf ich dich hinbringen?“
„Zum Friedhof.“
„Bisschen kalt zu dieser Jahreszeit, meinst du nicht?“
Noiry schwieg …
„Ich weiß einen wärmeren Ort für uns beide. Einverstanden?“
Noiry schwieg noch immer. Sie wusste, was er wollte, und sie war bereit. Es täte ihr gut, in die Arme genommen zu werden, Wärme und Nähe zu spüren. So etwas fehlte in ihrem Leben.
In Anubis Wohnung lief sie zuerst durch alle Räume, inspizierte Fenster und Türen, sah hinunter auf den Kiesweg, nahm Maß, wie sie im Notfall springen müsste.
Er ließ sie gewähren.
Im Badezimmer griff Noiry zur Seife und wusch sich gründlich das Gesicht. Kajal und Wimperntusche hinterließen eine schwarze Spur im Waschbecken, vermengten sich mit den dunklen Rot des Lippenstiftes.
Rot, rot wie Blut …
Abgeschminkt sah sie aus, wie ein Kind, ein sehr erschöpftes Kind, obwohl sie durchaus eine Frau war.
Als sie ins Wohnzimmer kann, war es warm. Gedämpftes Licht und leise Streichmusik beruhigten ihre aufgewühlten Sinne. Anubis hatte inzwischen seinen Schakalkopf abgesetzt und Noiry sah sich einem attraktiven Fremden gegenüber. Blonde Bartstoppeln und ein kantiges Kinn, den Schädel – wohl für einen besseren Sitz der Maske – kahl rasiert.
„Bist ganz schön erledigt, was?“
Noiry nickte, trat zu ihm und ließ sich willig in die Arme nehmen. Wärme umfing sie. Wärme und ein guter männlicher Geruch. Und zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie so etwas wie Geborgenheit. Trost in all der Kälte, die sie sonst umgab. Müde legte sie dem Kopf an seine Brust und schoss die Augen. Seine Hände streichelten ihren Rücken, fanden den Reißverschluss des Catsuits und zog ihn herunter.
„Mädchen, was bist du kalt!“
Anubis zog sie fester an sich. Seine Hand glitt unter das Oberteil, streichelte ihre Schultern …
„Es ist doch nicht das erste Mal?“
„Nein.“
Dann streifte er ihr das Oberteil herunter, küsste sanft ihre Stirn, ihren Mund, ihren Hals …
Noiry erschauerte und entspannte sich im selben Moment. Es war das erste Mal, dass sie sich so gut dabei fühlte.
Schon im Aufwachen spürte Noiry wieder diese Wärme, spürte, wie es war, gehalten zu werden, spürte seinem Körper an ihrem.
Doch dann fuhr sie, wie elektrisiert, aus dem warmen Nest. Wie spät war es? Draußen vor dem Fenster war es noch dunkel, aber …
Die digitale Anzeige auf Anubis Wecker zeigte 5,15. Alles in Ordnung. Die Sonne ging erst spät auf zu dieser Jahreszeit. Erleichtert sank sie auf das Kissen zurück. Neben ihr lag Anubis und schnarchte. So leise, als wolle er sie nicht stören. Er hatte ihr in dieser Nacht so viel Liebe und Zärtlichkeit geschenkt, und doch …
„Ich muss es tun,‘
dachte Noiry,
‚ich muss es tun, sonst sterbe ich.‘
Sie drehte sich zu ihm, küsste seine Schläfe, die Wange, kam mit winzigen Küssen am Ohr vorbei und landete schließlich mit ihren Lippen auf seiner Halsschlagader. Einen Moment lang genoss sie das regelmäßige Pulsieren unter ihren Lippen.
„Tut mir Leid, Liebster …“
Noirys Fangzähne waren und spitz wie Nadeln. Vorsichtig kostete sie die ersten Tropfen, dann den ersten Schluck. Warm und süß rann sein Blut durch ihre Kehle. Es füllte ihren Magen und belebte jede einzelne Zelle ihres Körpers. Sie war ausgehungert und doch trank sie vorsichtig, Schluck für Schluck. Sie wollte Anubis nicht seiner Kraft berauben, sie wollte nur überleben.
Während Noiry trank, wachte Anubis auf. Er nahm sie in den Arm und stützte sie, damit sie sich in Ruhe nehmen konnte, was sie so dringend brauchte. Er hatte genug für beide. Als sie satt war, verschloss Noiry die Bisswunden mit ihrer Zunge.
„Danke, Anubis, danke für alles.“
Hauchte sie mit einem Kuss an seine Wange.
Danach schwang sie sich aus dem Bett, rollte den Catsuit an ihrem Körper hinauf und band die die Schleifen der Turnschuhe zu.
Die dritte Etage war kein Problem. Noiry sprang und landete lautlos auf dem Kiesweg. Wie ein Schatten verband sie sich mit der Dunkelheit.
Noirys Nacht
von Susanna Ka
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