Ich reise gerne in der ersten Klasse. Auch heute. Als ich in Wollishofen einsteige, ist der Wagen noch fast leer. Leer wie mein Kopf nach einem wenig inspirativen Arbeitstag.
In meinem Sichtfeld ist nur eine reife Businessfrau (Haha, geile Formulierung! Reife Businessfrau sucht Frischfleisch oder so), die gerade einen dieser Conference Calls zu führen scheint, weil Telefonkonferenz ja so altmodisch klingt. Die Businesswelt ist mehr Schein als Sein.
Noch was zur Optik: blondes, schulterlanges Haar, weisse Bluse. So weit, so erwartbar. Nur hat sie im Gegensatz zu den meisten Berufskolleginnen nicht einen, sondern gleich zwei Knöpfe offen. Warum? Darum! Ich beteilige mich natürlich nicht an Spekulationen. Trotzdem können wir fehlende Kinderstube bilanzieren. Evidenz: Ihre Füsse hat sie auf den gegenüberliegenden Sitzplatz gelegt. Wir stellen fest: Erste Klasse heisst nicht «mehr Klasse», sondern nur «mehr Geld».
Am Bahnhof Enge steigt niemand zu.
In Wiedikon schon. Und zwar ein Businessherr mit Aktenkoffer, höchstens 35 (#Frischfleisch?). Weisses Hemd, aber bis zuoberst zugeknöpft. Dass der noch Luft kriegt? Brustatmung statt Bauchatmung, auf Dauer nicht gesund. Ganz ohne Sperberblick sehe ich, dass er unter seinem zugeknönpften weissen Hemd noch ein weisses Unterhemd trägt. Stellt ihm Mama die Garderobe zusammen? Alle Aktienkurse im Kopf, aber keinen Plan von Mode. Der Rest passt auch: kurze Haare, pragmatischer Schnitt, ein Kassengestell auf der Nase. 35 und schon Spiessbürger. Früh übt sich. Seine Biografie scheint längst geschrieben: linear verlaufende Karriere in den gehobenen Kreisen bis zur Frühpensionierung, dann nur noch Vernissagen und Golfturniere.
Am Hauptbahnhof Zürich steigt ein zerstreuter, alter Mann mit zersaustem, weissem Haar zu. Wir wissen alle, wie ein solches Exemplar aussieht. Um das Bild zu vervollständigen: Er hält in seiner Hand ein Dosenbier. Alles klar? Eben. Auf Klischees ist Verlass. Auf seinem fleckigen T-Shirt der Schriftzug «LOVE RIDE TO BENEFIT MDA». Verstehe ich jetzt nicht, muss ich googeln. Aha aha, hört hört: «Love Ride Switzerland ist die grösste Benefizveranstaltung der Schweizer Biker-Szene. Der erzielte Gewinn kommt muskelkranken und behinderten Menschen zugute.» Mein Investigatismus fördert ausserdem folgende Info zutage: Letzte Ausgabe war am 5. Mai 2019, heute ist 27. Mai 2019. Nicht faktenbasiert, sondern rein hypothetisch ist dagegen meine Vermutung, dass er das Shirt seit 22 Tagen trägt, ohne es mal gewaschen zu haben. Ist das nur eine fiese Unterstellung? Tue ich dem sympathischen Lockenkopf unrecht? Ich schiele in seine Richtung. Er popelt in der Nase. Der Leser hat jetzt alle nötigen Informationen, um sich ein eigenes Bild zu machen. Case closed.
Auf der Treppe, die laut den peniblen Kontrolleuren natürlich ebenfalls zur ersten Klasse gehört, sitzt eine junge Frau mit einem Fahrschein zweiter Klasse. Leben am Limit. Optisch: Weiss lackierte Fingernägel, Lederjacke, Jeans mit Löchern, silberne Turnschuhe, Fusskettchen. Sie scheint einen Roman auf WhatsApp zu schreiben, denn man sieht nur in ihrer rechten Spalte Text, die linke Spalte ist leer. Ich tippe auf Standpauke. Armer Boyfriend. Der kann was erleben.
Oerlikon: Jungspund (Sohn reicher Eltern) steigt zu. Poloshirt mit gesticktem Logo, Socken mit altmodischem Rautenmuster in weissen Sneakers, lässige Sonnenbrille, Dreitagebart, Mittelscheitel, iPad. Ferndiagnose: Snobismus im Endstadium. Gute Besserung!
In Wallisellen steig niemand zu. Draussen braut sich derweil ein Gewitter zusammen, dunkelblaue Wolkenfront. Ein Essay ohne das Wort «derweil» ist kein Essay. Der Snob hat keinen Schirm dabei, und in mir macht sich parallel ein wenig Schadenfreude breit. Emotionaler Höhepunkt eines langweiligen Tages.
Auch in Dietlikon verzeichnet unsere feine, kleine Erste-Klasse-Gemeinschaft weder Zu- noch Abgänge. Und schwer vorstellbar, dass einer von uns Privilegierten in demnächst Effretikon aussteigen wird.
Doch! Captain Popelbier. Natürlich. Seine mittlerweile leere Dose wirft er in den Eimer für das Altpapier. Stilechter Abgang, guter Mann.
Nun fahren wir nach Winterthur/Endstation. Auf dem Perron mischen wir uns Privilegierten dann wieder unters Volk, und in der überfüllten Unterführung gibt es keine Klassenunterschiede mehr. Beim Drängeln ist jeder auf sich alleingestellt. Schicksalsgemeinschaft Bahnhof. Schön. Nächstes Mal fahre ich wieder 2. Klasse, da sind die Menschen besser gekleidet, und es gibt wenigstens lustige Gespräche zu lauschen.
Reife Businessfrau sucht Frischfleisch

von Nico Kesper
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