Betrachtung über mein Gehirn unter Mitwirkung desselben

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von Willi Grigor

Ohne das Gehirn läuft wohl nicht viel im menschlichen Körper. Es ist irgendwie überall mit dabei. Aber ist das auch immer gut?
"Das Gehirn ist das Organ, das uns zum Menschen macht, uns unsere Identität gibt. Es ist somit unser wichtigstes Organ." So habe ich es gelesen.
Ich bin der Meinung, dass mein Gehirn mehr ist als das. Es ist auch ein Besserwisser, ein Befehlshaber, ein Diktator. Es mischt sich ein, es sagt wo's lang geht, es kritisiert meine Gedankengänge und heißt sie doch tatsächlich manchmal auch für ganz gut. Will mich bei Laune halten. Ich glaube, dass das ein listiger Trick des Gehirns ist. Es will nicht, dass ich womöglich alles hinschmeiße, ganz ausfalle. Ein Befehlshaber braucht ja jemand, den er befehlen kann. Es hat noch mehr solche Tricks. Wenn ich z. B. abends im Bett bei einer Diskussion mit dem Gehirn an meiner Meinung festhalte, dann sieht es zu, dass ich nicht schlafen kann, oder zumindest nur schlecht. Das kommt häufig vor, wir sind beide stur.

Bei relativ einfachen Entscheidungen ist es bewusst großzügig und überlässt die Entscheidung mir, bzw. einem der Organe, die sich hierarchisch und körperlich unter ihm befinden. Zum Beispiel darf alle 3-4 Stunden der Magen mir die Information übermitteln, dass ich schon lange nichts mehr gegessen habe. Das ist für dieses einfache Organ eine wichtige Aufgabe. Sollte diese Anmahnung nicht kommen, bestünde die Gefahr, dass dem Gehirn, das ganz oben im Körpergebäude zusammen mit seinen Mithelfern residiert, das Personal der unteren Etagen wegfällt. Und ohne satte - und damit willige - Untertanen fällt in der Verlängerung auch ein Diktator.

Wie die menschlichen Diktatoren hat auch das Gehirn einen Vorteil: Es kann wichtige Entscheidungen schnell und unbürokratisch fällen. Hier demokratische Prozesse einzuschalten, könnte fatal sein. Die untergeordneten Organe, der Körper, also ich, werden vom Gehirn da gar nicht gefragt. Und in diesem Fall ist das auch gut, Schnelligkeit kann über Leben und Tod entscheiden. Ein Beispiel: Wenn ich bei einer Wanderung an einem steilen Hang stolpere, greift das Gehirn, bzw. das Rückenmark, sein Gehilfe in solchen Fällen, blitzschnell ein und gibt meinen Händen den Befehl, sofort eine Haltemöglichkeit zu ergreifen. Dann freue ich mich, dass mein Gehirn, also der Diktator und Oberbefehlshaber, mich dadurch wahrscheinlich vor einem Absturz bewahrt hat. Aber manchmal bin ich geneigt zu glauben, dass das Gehirn nur sich selbst schützen will, mit Hilfe seiner Untertanen im und am Körper, die es befehligt. Der menschliche Diktator ist also auch nur ein Befehlsempfänger des wahren Diktators, und das ist sein Gehirn. Dies sind aber alles nur meine eigenen Spekulationen, die ich mir anhand der Vorgehensweise meines Gehirns zusammengereimt habe. So ganz genau weiß das wohl niemand.

Erst neulich outete sich mein Gehirn wieder einmal als ein Besserwisser. Das tut es in regelmäßigen Abständen. Ich las einen etwas andersartigen Text, dessen Inhalt ich nicht so recht begriff, der mir aber dennoch eine Art wohlige Gänsehaut an Teilen meiner nicht mehr so flexiblen Haut bescherte, besonders an der Stirn. Mein Gehirn beansprucht diese Stelle für sich und reagierte etwas irritiert. Ich merkte es an den Verwerfungen der Runzeln. Mit gelassener Überlegenheit gab es mir zu verstehen: "Den Text kannst du vergessen, gibt keinen Sinn, manche können halt nicht besser." Da aber die Worte "Planeten" und "All" darin vorkamen wurde ich neugierig und schrieb eine kurze Nachfrage an den Verfasser. Ich bekam eine gute Erklärung, einen interessanten Blick in eine andere Welt und einen weiteren Beweis für das Besserwissergebahren meines Gehirns.

Noch etwas anderes gibt es, habe ich bemerkt, das mein Gehirn irritiert, das es gar nicht mag. Nämlich so ein mystischer, nicht greifbarer "Eindringling", wie das Gehirn es gerne benennt. Dieser befindet sich fühlbar irgendwo in der Magengegend, man nennt ihn auch "Bauchgefühl". Mein Gehirn ist deshalb so erbost über diesen"Fremdling" im Körper, weil das Gehirn keine Macht über ihn hat. Und er beeinflusst mich ab und zu in der Art, dass ich Dinge so beurteile und dann auch tue, die dem Gehirn absolut nicht passen. Dies passiert aber nicht allzu oft, es hat sich gezwungenermaßen damit abgefunden.

Bei meinen Abendspaziergängen ist mein Gehirn meistens sehr nett zu mir. Vor allem, wenn ich auf stillen Wegen unterwegs bin oder auf einer Friedhofsbank sitze. Ich habe noch nicht herausgefunden warum. Vielleicht ist die freundliche Stille eine Gemeinsamkeit, die uns verbindet. Wir unterhalten uns über alles mögliche. Bei dieser Gelegenheit wechseln die Themen und die zugehörigen Orte schnell. Mein Gehirn gibt mir dann manchmal Gedankenanstöße, die ich später verwerten kann. Einmal flüsterte es mir zu: "Abends bist du Einzel-Gänger, spazierend als Gedankenfänger." Das hat mir gefallen und wurde am nächsten Tag der Anfang eines Gedichts.

Jetzt, wo ich daran denke, wird mir ganz warm ums Herz, und der Gedanke drängt sich auf, - wohl unter Mitwirkung meines Gehirns - den obigen Attributen, die ich ihm zuordnete, auch ein positives hinzuzufügen. Denn eigentlich sind wir ja Freunde.
Mal sehen, wie ich heute Nacht schlafe.

© Willi Grigor, 2017

Im Text angeschnittene Gedichte:
literatpro.de/gedicht/250116/gedankenfaenger
(W. Grigor)
literatpro.de/prosa/220717/gaensehaut
(D.R. Giller)

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