Fin und der Zauberer

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von Michael Dahm

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Es war einmal ein kleiner Junge, der wohnte, mit seinen ganz normalen Eltern, in einem ganz normalen Haus, in einer ganz normalen Stadt, in einem ganz normalen Land, in ei ... ach lassen wir das jetzt, sonst fängt die Geschichte ja nie an.
In seiner Heimatstadt war alles genauso wie in jeder anderen Stadt. Autos verstopften die Straßen, Ampeln regelten den Verkehr, Busse und Bahnen fuhren und die Kinder gingen zur Schule, denn sie wollten ja etwas lernen, um sich auf das Erwachsenenalter vorzubereiten. Wer wollte nämlich groß und dumm sein, Du etwa? Hier sind wir auch schon bei unserem Problem angekommen. Unser kleiner Junge, nennen wir ihn Fin, wollte nicht groß werden und er wollte auch nicht zur Schule gehen. Inzwischen war er sieben Jahre alt und sollte eigentlich seit einem Jahr Schulkind sein. Aber irgendwie hatte er es geschafft, seit seinem vierten Lebensjahr nicht mehr zu wachsen. Das war erstaunlich, denn jeder weiß, dass man sein eigenes Wachstum nicht beeinflussen kann. Er konnte … und hatte es damit zumindest für eine Weile geschafft, nicht eingeschult zu werden. Alle seine gleichaltrigen Freunde gingen zur Schule und waren schon ein gutes Stück größer als er. Sie kannten schon die ersten Buchstaben und Wörter, konnten schon addieren und subtrahieren und auch malen. Stolz trugen sie ihre Schulranzen. Nur Fin sagte: „Das brauch ich alles nicht, mir geht es gut auch ohne suddieren und abtrahieren. Ich bin viel schlauer als die anderen. Spielen und schlafen ist besser. Ich werde ein Kind bleiben und die Großen werden immer alles für mich machen." Das aber hatte ein Zauberer gehört, der in Gestalt eines Raben an Fins geöffnetem Fenster vorbeiflog. Er kam im Bogen zurück, setzte sich auf das Fensterbrett und sah und hörte Fin eine Weile zu. Dann räusperte er sich: „Hä, mhm,
Mmhm … Hallo?”
Fin drehte sich um und sah den Raben auf dem Fensterbrett sitzen. „Warst du das eben?”, fragte er und runzelte die Stirn. „Ich geh zwar nicht zur Schule, aber ich weiß, dass Vögel nicht reden können.”
Da grummelte es ein wenig und aus der Richtung des Raben kam Rauch hereingezogen und im Rauch verwandelte sich der Rabe in einen, na sagen wir, Menschen, weit vorgerückten Alters.
Ich muss nämlich vorsichtig schreiben, vielleicht liest der Zauberer das hier ja eines Tages und ist dann beleidigt. Man weiß doch, wie gefährlich beleidigte Zauberer sind, oder?
Als der Rauch gänzlich verflogen war, sprach der Zauberer: „Entschuldige bitte den Gestank, aber so ist das immer, wenn sich Rabenfedern auflösen … Ja, ich war das und es gibt doch Vögel, die Reden können. Was ist denn mit den Papageien?”
„Ach, die” , sagte Fin. „Die zählen nicht, die quatschen doch nur alles nach.” Der Zauberer lächelte und saugte an seiner Pfeife, die er soeben aus seinem Ohr herausgezaubert hatte.
„Darf ich mich vorstellen?“, fragte er und wartete Fins Antwort gar nicht ab. Er hielt ihm die Hand hin, auf der viele, viele Zeichen und Runen eintätowiert waren. Er bemerkte Fins fragenden Blick und erklärte: „Das sind Hilfen für mich, falls ich mal einen Zauberspruch vergesse, brauch ich nur auf die Hand schauen und schon weiß ich wieder, wie er heißt. Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste und mein Gedächtnis lässt mich manchmal schon im Stich. Also noch mal: Ich bin der alte Michael, du darfst aber auch Micha oder Mika zu mir sagen, so sagen meine Freunde, die Trolle in Irland und die Wichtel in Norwegen, zu mir. Wer bist du denn?” „Fin”, sagte Fin, „und was willst du nun hier?”
„Nichts”, sagte der alte Michael. „Ich wollte dich nur mal fragen, ob du mit mir mitkommen möchtest.”
„Wohin”, wollte Fin wissen. „Ja”, sagte Mika: „Ich habe dir vorhin eine Weile zugehört und erfahren, dass du nie groß werden und niemals zur Schule gehen möchtest. Da hab ich mir gedacht, ich zeige dir mal wie es ist, wenn keiner etwas lernen möchte und alle klein bleiben. Ich kenne nämlich ein Land, da ist das tatsächlich so und du müsstest dich dort eigentlich pudelwohl fühlen. Das wäre genau das Richtige für dich." Seine braunen Augen funkelten listig.
Fin überlegte eine Weile: „Aber was werden Mama und Papa dazu sagen, wenn ich weg bin?” Nach einem weiteren langen Zug an seiner Pfeife entgegnete Mika: „Ich kann es so einrichten, dass sie gar nicht merken, dass du fort bist. Ich lasse hier einfach die Zeit stillstehen, während sie für uns weitergeht. Ich habe damals nämlich furchtbar gern gelernt. Der Temporaliszauber war schon immer mein Lieblingszauber und meine Zauberlehrerin Frau Flux war besonders stolz auf mich, denn ich strebte immer nach mehr. Leider war ich einmal so übermütig, dass ich im Unterricht einen Zauberspruch aussprach, den ich nur halb beherrschte und dadurch verlor ich Frau Flux im Strom der Zeit. Vielleicht ist sie schon irgendwo angekommen oder sie wirbelt noch immer in den Äonen umher. Seitdem suche ich einen Zauber, der sie wieder zurückbringt.” Wehmütig nuckelte er an seiner Pfeife. Fin bekam auf einmal Mitleid mit dem Zauberer. Er setzte sich auf seinen Schoß und sprach: „Weißt du was, Mika, du kannst mir gern diese Land zeigen, ich bin schon sehr gespannt darauf und vielleicht kann ich dir helfen, den Zauberspruch zu finden. Aber stell dir nur mal vor, wenn Frau Flux wieder da ist. Das gibt bestimmt einen Mordsärger. Aber ich möchte gern dein Freund sein, denn keiner meiner Freunde hat einen Zauberer zum Freund.”
Mika schluckte vor Rührung, denn er hatte einen großen Kloß im Hals. Er gab Fin einen Kuss auf die Stirn und sprach:
„Ab heute sind wir Freunde … großes Zaubererehrenwort.”
Er nahm Fin von seinem Schoß und sagte mit fester Stimme: „Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen. Schau dich ruhig noch einmal um, eine Weile wirst du nicht mehr hier sein und, wie gesagt, werde ich die Zeit in ihrer Bewegung hier stoppen, sie wird verharren, egal, wie lange du fort bist …” Fin ging in seinem Zimmer umher und überlegte, was für ihn noch zu tun sei. Er begab sich zu seinem Bett, in dem Alfons, sein treuer Knuddelbär,

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