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interessieren, dass er sie vergessen wollte. Er spürte das Vibrieren in seinem Brustkorb, seufzte leise. Und wieder war sie zurückgekehrt. Wie jeden Tag und er konnte sich jeden Tag weniger der Energie erwehren, die mit ihrer Erscheinung durch seinen Körper wanderte. Es war ein großer Unterschied, ob ihr Bild aus seinem Kopf kam oder er das Gefühl von ihr in seinem Brustkorb trug. Ein Gefühl als würde etwas in ihm erblühen, sich weit öffnen und Frieden spenden. Selbst in dieser Gegend hier. Sein Geist schrie ihn an, brüllte, ob er den Verstand verloren habe und zeitgleich wurde seine Sehnsucht nach ihr intensiver. Zwei Monster, die in ihm miteinander kämpften, sich an die Kehlen gingen und tief grollend die Kiefer aufeinander krachen ließen um sich kurz danach das Fell zu zerfetzen wie von Sinnen. Fenris spürte wie die Energie aus ihm herausströmte, ob des Kampfes, als wäre er zerlöchert. Ein Sieb, aus dem alles floss, was ihm geschenkt wurde. Mit trüben Blick hob er den Kopf, fuhr sich mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen. Müde schleppte sein Ross ihn weiter durch die verwahrloste Landschaft. Dass der Kampf hier genauso ausweglos war wie der Kampf in seinem Inneren, wusste der erfahrene Krieger, doch überrennen lassen wollte sich weder die Menschheit, noch er selbst. Und so straffte er die Schulter, richtete sich auf und schnalzte mit der Zunge um den Friesen anzutreiben, der sich nur schwer schneller über die dunklen Steine schleppte. Plötzlich durchschoss ihn ein heftiger Schmerz. Keuchend flog Fenris rückwärts vom Pferd, landete krachend auf dem Rücken und blieb dort liegen. Noch gänzlich verwirrt, hob er den Kopf und starrte auf den Pfeil, der sich durch das Fleisch in seiner Schulter gebohrt hatte. Der Schütze musste es genau auf diese Schwachstelle abgesehen haben. Wo der Brustkorb, Hals und Schädel noch gut gepanzert waren, lagen nach einem erbitterten Kampf sein Bauch, Unterleib, Gliedmaßen und Schultern frei; waren lediglich mit einem dünnen Stoff bedeckt. Ächzend griff Fenris mit einem Arm auf die Seite. Die Finger umklammerten den metallischen Stil des Pfeils und zogen ihn mit einem Ruck aus seiner Schulter. Die Widerhaken an der Spitze wühlten sich durch den Körper bis das ganze Geschoss mit geballter Wut irgendwo hingeschleudert wurde. Ächzend blieb Fenris liegen, nachdem er kurz versuchte aufzustehen. Grünes Gift grub sich durch seinen Körper, tränkte die Blutbahnen.
„Adrienne“, schoss es ihm plötzlich panisch durch den Kopf, perlte ihm verzweifelt über die Lippen. „Adrienne, du bist auf dem Weg hierher.“ Er wusste nicht woher die Gewissheit kam, aber er war sich sicher. So sicher wie noch nie vorher. „Oh Gott, Adrienne...“ Er rappelte sich wieder auf die Beine, schwankend und taumelte zurück bis etwas in ihn aufhielt. Fenris fuhr herum und erkannte erleichtert den treuen Blick seines vierbeinigen Gefährten. Das Fell struppig, die Mähne zerzaust, rieb es die weichen Nüstern an Fernis’ Schulter, schnaubte leise und schlug, von seinen Instinkten geleitet, den richtigen Weg ein.
Er musste....er wusste nicht wie, aber er musste ihr irgendwie entgegen kommen. Irgendwie. Und so schleppte er sich, von seinen inneren Kräften gestützt durch das trostlose, abgestorbene Land.
Die Sonne verweigerte es seit seiner Ankunft an den Himmel zurück zu kehren. Lediglich rötliches Licht brach schimmernd durch die dunkle Wolkendecke am Himmel und ließ das gesamte Land ausbluten. Dieser Dämon, der hier sein Unwesen trieb, war von den Menschen selbst erschaffen worden. Aus ihren Gedanken, ihrem Egoismus, ihrem Verstand. Sie identifizierten sich so sehr mit diesem Wesen in sich, dass aus einem nützlichen Wegbegleiter ein Parasit wurde, der sich mit anderen Parasiten zusammenschloss, sodass schließlich ein eigenständiges Wesen daraus wurde, dass sich aus der Missgunst, der Gedanken und auch der guten Energie, die beinahe in den Menschen versiegt ist, ernährte.
Fenris’ Hand klammerte sich an dem schwarzen Fell fest. Strauchelnd lief er durch die Landschaft, die Wunde einigermaßen verbunden. Er musste die Panzerung abnehmen, sodass nun auch Kopf, Hals, Brustkorb freilagen. Sein Panzer wurde aufgebrochen. Er kannte sein Ziel, zerbrach sich jedoch nicht den Kopf, ob er es erreichen würde, sondern ging Schritt um Schritt weiter, fokussierte sich darauf, wohin er den Fuß als Nächstes setzen musste, denn, würde er noch einmal zu Boden gehen, wusste er, würde ihn nichts mehr auf die Füße bekommen.
Die Gebirgszüge, über die er gekommen war, schimmerten von dieser Seite her im dunkelsten Schwarz. Sie erreichten das Schlachtfeld. Die Leichen lagen noch immer herum. Hier gab es nicht mal mehr Aasfresser. Schweigend, um Gevatter Tod bei seinem weiteren Werk nicht zu stören, ging Fenris weiter, begleitet von dem leisen Schnauben seines Pferdes.
Der Wind fuhr durch das dunkle Haar und spielte damit. Benommen blickte Adrienne vom Gipfel hinab auf das schattenhafte Land zu ihren Füßen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben so etwas erblicken müssen. Nun, wo ihre Augen wirklich das sahen, was sie in ihren Träumen heimsuchte, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinab. Schweigend ließ sie diesen Anblick auf sich wirken und alles in ihr nahm das so an, wie es sich darstellte. Voller Neugierde machte sie sich auf den Weg hinab in dieses zerstörte Land. An einem Hang rutschte sie über das schwarze Geröll hinab. Ihre Hände zogen eine Furche durch die losen Steine. Adrienne setzte sich auf, schob noch ein paar mehr Steine zur Seite, sodass sieben kleine Blumen hervorkamen. Ihre roten, orangenen, gelben, grünen, hell –und dunkelblauen sowie violetten Blütenköpfe reckten sich gen Himmel.
Ein leises Schnauben ließ Adrienne herumfahren. Sie erkannte sofort den Friesen, der auf sie zu galoppiert kam. Für einen kurzen Augenblick blieb ihr das Herz stehen, dann kam sie dem Pferd ein ganzes Stück entgegengelaufen. „Fenris“, flüsterte sie leise, doch der Krieger war nirgendwo zu sehen. Am ganzen Körper zitternd ließ sie sich von dem Friesen zu einem zusammen gesackten Mann bringen. Mit weichen Knien ließ sie sich vor Fenris nieder, der wie erstarrt die Arme um seinen Körper geschlungen hatte und auf den Boden blickte. Das Gift fraß sich durch seinen Leib, sodass er sich kaum bewegen konnte.
Adrienne rang mit sich, doch die Tränen brachen aus ihr heraus, während sie ihre Hände an seine Wangen legte und die Stirn gegen seine lehnte. Obwohl er nicht imstande war, einen Laut von sich zu geben, spürte sie seine Anwesenheit bei sich auf einer viel tieferen Ebene als der physischen. Dennoch akzeptierte sie es, dass es ihr scheinbar das Herz zerriss, ihn nicht mehr auf dieser Welt hören, riechen, spüren oder erleben zu können. Noch einmal seine Stimme zu hören; noch Mal seinen Herzschlag, seine Anwesenheit. Warm glitten ihre Finger über das Gesicht, warteten bis auch der letzte Atemzug verebbte und hinausgetragen wurde in die Welt. Endgültig war nichts. Man musste das erst erleben. Adrienne verharrte in der Position, schloss die Augen und spürte seine Worte in sich, seine Anwesenheit, seine Energie, die sie davontrug, ihr Kraft und Energie gab. In der scheinbaren größten Tragödie erkannte sie das Geschenk, welches ihr zuteilwurde. Auch wenn noch immer ein Teil von ihr an dem Schmerz zerging, der sich durch ihren Leib fressen wollte.
Sie spürte sein Nahen sehr deutlich. Es ging ihr durch Mark und Bein, durch Leib und Seele. Als würde sich ein riesiger Abgrund unter ihr auftun, wagte Adrienne nicht, sich umzudrehen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Angst, Schrecken, Hass, Wut, Egoismus, Narzissmus und alles, womit sich die Welt identifiziert hatte, kam gleich kleiner schwarzer Dämonen auf sie zu. Sie krochen, lechzten und labten, schmatzten in voller Vorfreude, einen Tropfen der Energie zu erhaschen, die durch sie floss. Weit offen standen die Blüten in ihrem Körper; köstliche Blumen, an denen sich schwarze, klauenartige Finger vergehen wollten. „Oh Gott, hilf’ mir“, flüsterte sie, wehmütig und starrte in die Richtung aus der die absolute Schwärze kam. Ein wabriger Geruch aus Einsamkeit streifte ihre Nase. Sie drückte ihren Leib gegen Fenris, der jedoch langsam zur Seite kippte und mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden landete. Benommen wurde Adrienne gewahr, dass sie ganz allein hier war und schon griff das erste Wesen direkt durch ihren Körper. Sie zuckte zurück, schnappte nach Luft, während eine eisige Kälte durch sie wanderte.
Sie erblickte, was erschaffen wurde von ihr und ihresgleichen. „Akzeptiere die Angst“, flüsterte sie sich mit bebender Stimme leise zu.
„Oh, du armes Wesen“, erwiderte eine eisige Stimme. „Du brauchst nicht zu wimmern. Es wird Zeit zu sterben, denn ihr habt mich zu dem gemacht, was ich bin.“
„Du wirst keine Chance haben; selbst, wenn du jetzt erfolgreich bist. Die Liebe wird...“
„Ach höre doch auf mit dieser Liebe.“ Es zerging in einem wahnsinnigen Gelächter. „Es wird weder einen Retter, noch einen Helden geben.“
„Gott wird einen Platz für mich haben.“
„Kapiere es endlich! Es gibt keinen Gott. Das hier, habt ihr selbst zu verantworten. Und nun lebt damit.“
„Egal was du jetzt machst; es wird nur dazu führen, dass die Liebe unendlich bleibt. Frieden“, erwiderte sie mit einer Mischung aus Sanftheit und dem Trotz eines kleinen Kindes.
„Ach, dein Frieden. Schau’ dich um ... der Letzte ist gestorben. Niemand ist mehr da um den Frieden zu bringen. Was willst du in dem Abgrund hier noch sehen. Kein Licht, keine Schönheit...alles welk’; alles zerstört.“
Adrienne kniff die Augen zusammen, mahlte mit den Kieferknochen aufeinander und funkelte das Wesen an. „Du bist in all deiner Dunkelheit wunderschön.“ Sie konnte nichts gegen ihn machen. Es war da. Dieses Wesen. Sie konnte es nicht zerstören. Es würde immer ein ständiger Begleiter sein; egal, was man machte.
Sie hörte es noch lauter Lachen in all seinem Wahnsinn und der Überheblichkeit. Sie kniff bebend die Augen zusammen, grub die Finger in das Geröll, spannte die Muskeln an.
Noch bevor sie die Augen öffnete, spürte Adrienne den Frieden und die Wärme in sich. Sie fühlte wie alles weit war; grenzenlos und unendlich. Die Stille um sie herum breitete sich gleich eines einladenden Betts aus. Vergessen waren die Erfahrungen nicht; jedoch die Bilder. Allein was zählte war der Strom um sie herum.
„Wir laufen über den Himmel“, würde er jetzt sagen, wenn Worte noch wichtig wären. Zwischen den Galaxien, zwischen den Planeten, neben dem Fluss der Zeit, über der Endlichkeit und unter der Unendlichkeit, legte er seine Hand auf ihren Brustkorb. Eine Stoßwelle ging sanft durch ihr Feld, während sie ihre auf seinen Brustkorb legte. Vollkommenheit brachte den Fluss in Wallungen, ließ sie beide, die sich zu ihrer Komplexität vereinten, erstrahlen. Ein helles Licht, welches seinen Weg durch den Raum fand, landete dort, wo es auch immer landen sollte.
Adrienne bettete ihren Kopf auf Fenris’ Schulter, schloss die Augen und ließ sich führen; geleitete ihn dorthin, wohin es ihn auch immer zog. Sie waren vollkommen, vereint, auf der Suche nach den Anderen um dorthin zurück zu kehren, woher sie gekommen waren. Zur Quelle, der alles und nichts entsprang. Zeit spielte keine Rolle und so liefen sie durch den Himmel in ihrer vollkommenen Schönheit.