Wer kann sich noch an den 18. und 19. Januar 2007 erinnern? Ich gebe zu, es liegt schon einige Donnerstage zurück, aber es fand ein Ereignis statt, das es nicht allzu häufig gibt.
Ich sage nur ein Wort … Kyrill. Jetzt müsste es bei vielen Leuten klingeln.
Es war ein Orkan von gigantischen Ausmaßen, der mit mehr als 220 Stundenkilometern ganz Europa heimsuchte, Milliardenschäden verursachte und auch Menschenleben forderte.
Kyrill - dieses Wort wird für mich untrennbar mit dem Erlebnis verbunden sein, das ich Euch nun erzähle. Es begann einige Tage vorher …
Wer aus den neuen Bundesländern kann sich nicht an die vielen Überlandleitungen erinnern, die kreuz und quer durch das Land gespannt waren. Es war kein schöner Anblick, aber es war so, und wir waren damit aufgewachsen. Als Kinder legten wir gern unsere Ohren an die Holzmasten und lauschten dem Summen des fließenden Stromes. Jede fünfzig Meter stand ein solcher Mast und prägte die Landschaft. Einige standen schon zwanzig Jahre und länger und waren dementsprechend verrottet.
Meine damalige Frau und ich gingen gern einmal querfeldein spazieren. Bei einem dieser Spaziergänge sah ich mir einen dieser Masten genauer an und sprach prophetisch:,,Beim nächsten Sturm wird dieser Mast fallen.”
Normalerweise liebe ich es, wenn ich recht behalte, aber in diesem Falle wäre das Gegenteil erfreulicher gewesen. Wer konnte denn ahnen, dass sich meine Prophezeiung bestätigen würde …
Einige Tage vergingen, bis am Dienstag, dem 16. Januar, der Wetterbericht erste Warnungen vor einem Orkantief herausgab. Man konnte aber doch nichts dagegen tun, und so ging das Leben weiter … bis zum 18. Januar.
Die Unwetterwarnungen überschlugen sich, der Orkan war im Anmarsch. Er hatte sich über Island gebildet und rückte nun gegen Europa vor.
Gegen Mittag wurde es auch bei uns immer heftiger, wir hatten bereits alles niet- und nagelfest gemacht und harrten der Dinge, die da kommen sollten.
Die erste richtig heftige Windböe erreichte unsere Ortschaft gegen 18 Uhr. Die erste Windböe … und … der Strom war weg. Schlagartig fiel mir der Mast wieder ein. Ich ging aus dem Haus, kämpfte mich durch umgestürzte Bäume und herumwirbelnde Gegenstände zu der Stelle, wo er stehen sollte. Er stand nicht mehr. Ich stolperte durch die stockdunkle Nacht, denn im Januar ist es um 18 Uhr finster, und ohne Strom sowieso …. Das Telefon funktionierte zum Glück noch, und ich rief die Störstelle des Netzinhabers an. Es war nicht einfach, jemanden an den Apparat zu bekommen, denn sie hatten sicherlich eine Menge um die Ohren. Als ich endlich jemanden an der Strippe hatte, musste ich erfahren, dass man bei solch einem Unwetter keinen Störtrupp rausschicke. Das konnte ich gut verstehen.
Meine Frau hatte, bevor der Strom verschwand, einen Topf mit Soljanka auf dem Herd, die war natürlich noch nicht fertig. Wir kamen überein, dass ich den Campingkocher holte und den Topf draufstellte. Gesagt … getan. Sie fuhr noch mal los, um einige Teelichter zu besorgen.
Einige Zeit später kamen drei Fahrzeuge unsere schmale Dorfstrasse hinaufgekrochen. Ein Trupp der Feuerwehr, meine Frau und ein Reporter der Schweriner Volkszeitung. Der rasende Reporter fuhr klugerweise immer der Feuerwehr hinterher, denn wo sie war, war auch immer was los, und so kam er auch diesmal zu seiner Story.
Das Feuerwehrfahrzeug hielt vor unserem Hoftor, denn hier war ein Baum umgeknickt und mußte beseitigt werden.
Der Orkan nahm an Stärke immer noch zu. So heftig hatte ich es in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt und selbst mir wurde mulmig. Unser Haus stand mit seiner vollen Breitseite gegen den Sturm, der aus nordwestlicher Richtung kam. In unserem Wohnzimmer haben wir ein großes Terrassenfensterelement, und ich sah, wie sich die Doppelverglasung bedrohlich nach innen bog. Ich zog lieber die Gardine davor ;-).
Meine Frau kam herein … mit dem Reporter im Schlepptau. Dem ausgebufften Paparazzo gingen die Augen über, als er das von hunderten Teelichtern erleuchtete Haus sah - und im Korb hatte sie noch weitere. Wir gingen in die Stube, und er staunte noch mehr, als er den einflammigen Campingkocher mit dem großen Soljankatopf darauf funzeln sah. Ich mußte ihm erklären, dass wir zum Heizen nicht unbedingt Strom benötigen, sondern dass wir wie zu alter Väter Sitte noch das ganze Haus mit Holz beheizten.
Die ganze Situation strahlte etwas Friedvolles, Ruhiges aus … draußen heulte der Sturm ohrenbetäubend und hier drinnen war es warm und gemütlich, und aufgrund der vielen Teelichter und Kerzen besinnlicher als an Weihnachten. Wir waren also ziemlich autark. Der Reporter war davon so beeindruckt, dass er beschloss, von dieser ungewöhnlichen Kulisse ein Foto zu schießen.
Meine Frau, meine Jungs und ich versammelten uns also hinter dem Soljankatopf und wurden medial verewigt. Dann bedankte sich der Reporter, verabschiedete sich, startete sein Auto und verschwand in der brüllenden Nacht, immer der Feuerwehr und einer nächsten Story hinterher …
Wir aßen unsere Soljanka und bekamen in dieser Nacht nicht viel Schlaf. Das Zimmer meines jüngsten Sohnes lag auf der dem Sturm abgewandten Seite des Hauses und dort schliefen wir dann alle, selbst der Hund. Der Orkan ruckelte und zuckelte an unserem Haus herum und ich spürte richtig die Wände wackeln.
Am nächsten Morgen inspizierte ich das Haus, aber es war zum Glück alles in Ordnung, doch überall lagen entwurzelte und umgeknickte Bäume herum, es gab also genug zu tun.
Es bleibt mir nur noch zu sagen, dass wir vier Tage ohne Elektrizität ausharren mußten, doch es gibt Schlimmeres auf der Welt und wir haben es überlebt.
Kurz darauf kaufte ich mir einen leistungsstarken Stromgenerator … seitdem hatten wir nie wieder einen Stromausfall. Ich werde ihn aber auf jeden Fall behalten - denn Holzauge sei wachsam.
Unser Foto erschien in der Schweriner Volkszeitung, wir haben es ausgeschnitten und gut weggelegt, denn schließlich wollen unsere künftigen Enkel auch mal ein paar spannende Geschichten hören, die wir dann mit Bildmaterial belegen können.
Die Überlandleitungen sind inzwischen Geschichte und die Strommasten verheizt …