Meister A. ist von einer guten alten Freundin der Familie zum Tee eingeladen worden. „Es freut mich ungemein, dass du dir die Zeit für den heutigen Besuch hast nehmen können, ich weiß ja, wie beschäftigt du immer bist, alleine schon durch deinen 'Mitleidsbestand' an hilfsbedürftigen beflügelten, bestachelten, zwei- und vierbeinigen Kreaturen“, begrüßt ihn die Gastgeberin freundlich lächelnd, „aber heute würde ich gerne dein 'Helfersyndrom' ausnützen, natürlich nur, wenn du dies gestattest. Deine Meinung zu einer Thematik, mit welcher wir uns normalerweise nicht so gerne befassen, würde mir in meinem Nachdenken darüber sicherlich dienlich sein können.“
Meister A. kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „O, heute sind wir aber förmlich. Mach' es nicht so spannend“, fordert er seine Bekannte auf.
„Nun“, beginnt jene etwas zögernd, „ich weiß ja, dass du der geborene Skeptiker, sozusagen 'der Geist, der stets verneint', bist. Also … ich las kürzlich ein Buch, welches – vereinfacht gesagt – zu beweisen sucht, dass das Leben mit dem Tode kein wirkliches Ende fände. Es werden darin zahlreiche, sogenannte Nahtod-Erlebnisse von Personen, welche zumindest an der Schwelle zum Tode gestanden waren, recht glaubhaft beschrieben. Hältst du - als 'Meister-Zweifler' - solche Erfahrungen überhaupt für möglich?“
„Da wirst du dich jetzt wundern, meine Liebe“, antwortet Meister A. lächelnd, „denn in mir hast du – sicher wider Erwarten – diesbezüglich möglicherweise sogar den richtigen Ansprechpartner gefunden. In meiner Jugend war ich nämlich ganz plötzlich sehr schwer organisch erkrankt, und nur eine Operation konnte mein Leben retten. Allerdings passierte hier ein gravierender Fehler, sodass ein zweiter Eingriff nötig war, welcher gut neun Stunden in Anspruch nahm. Damals hing mein junges Leben tagelang an dem berühmten 'seidenen Faden'. Starke Schmerzen und fieberbedingte Wahnvorstellungen ließen mich die reale Umwelt kaum mehr zusammenhängend wahrnehmen. Dabei erinnere ich mich an eine Situation jedoch so genau, als hätte ich diese erst kürzlich erlebt:
Mein Freund saß neben meinem Bette. Ich war zwar zu schwach, um mit ihm sprechen zu können, aber ich erlebte seine Anwesenheit als sehr beruhigend. Mein Vater stand ihm gegenüber.
Da fragte mein Freund leise: 'Glauben Sie, dass der nochmal wird?' Obwohl ich geistig ziemlich weggetreten war, bekam ich mit, wie mein Vater achselzuckend flüsterte: 'Ich glaube es nicht'.
Nun, um es kurz zu machen, ich hatte in diesen schicksalsschweren Tagen mehrmals das Gefühl, irgendwie aus mir herausgetreten zu sein, mich selbst von außerhalb, nämlich aus den Perspektiven oberhalb meines Bettes beziehungsweise aus dessen Nähe betrachten zu können. Dabei empfand ich keine Angst … zufrieden, meinem Geschicke ergeben, ruhte ich gleichsam in mir selbst.
Ich bezweifle also keineswegs, dass es derartige Grenzsituations-Erfahrungen gibt. Ich zweifle grundsätzlich nicht unbedingt an der Glaubwürdigkeit der Informanten, nur haben all jene, welche derartige Erlebnisse glücklicherweise noch beschreiben können – so wie ich – weitergelebt. Sie hatten Nahtod-Erlebnisse, waren aber nicht unwiderruflich, dauerhaft tot.“
„Nun ja“, warf die Gastgeberin ein, „ich kann dir jetzt gedanklich nicht so recht folgen. Einerseits räumst du die Möglichkeit solcher Erfahrungen durchaus ein, aber andererseits scheinst du daraus keine Schlüsse ziehen zu wollen.“
„Was heißt hier 'wollen'?“, erklärte Meister A., „ich kann beim besten Willen aus derartigen Erfahrungen nichts ableiten, was wirklich hieb- und stichfest, also allgemeinverbindlich wäre … also verzeihe mir, wenn ich einem so ernsten Thema jetzt mit dem folgenden trivialen Beispiele begegne, mich eines Gleichnisses bediene, welches ja nicht das Gleiche ist, sondern dir nur veranschaulichen will, was ich meine:
Stelle dir vor, jemand begibt sich zu einem Wirtshause. Er steigt aus seinem Auto, betritt die Gaststätte und nimmt an einem Tische Platz. Dort bestellt er sich ein Bier. Dieses wird serviert, er nimmt das volle Glas und führt es zu den Lippen. Der Duft des Bieres steigt bereits in seine Nase. Jetzt berühren die Lippen das kühle Glas, doch ehe der Gast zum ersten Schlucke ansetzen kann, läutet sein Handy. Er stellt also das Bierglas zurück auf den Tisch und nimmt das Gespräch an. Er erfährt, dass er unverzüglich in seine Wohnung zurück müsse, da sein großes Aquarienbecken heftig zu rinnen begonnen habe. Er wirft unversehens das Geld für seine Zeche auf den Tisch und verlässt fluchtartig das Lokal.
Du verstehst, dieser Jemand hatte sich seinem Biere bereits deutlichst angenähert … er hatte quasi ein Nahbier-Erlebnis. Der tatsächliche Geschmack dieses speziellen Bieres wird ihm aber zweifellos für immer ein Geheimnis bleiben müssen. Es wäre somit absolut unkorrekt, wollte er über ein Getränk etwas aussagen, welches er gar nicht wirklich kennengelernt hat.“
Meister A. - wer kann das sein? Hinter „Meister A.“ könnte ich mich verbergen – unter dem abgekürzten Pseudonym von „Meister Alfred“. Es könnte aber auch „Meister Allgemein“ gemeint sein, also jeder, jede, jedes ... also „alle“ oder „niemand Besonderer“. Jedenfalls soll es hier – möglicherweise um eine Folge? - von kleinen Episoden, Anekdoten, Denkanstößen, Lebensweisheiten … gehen, stets zumindest mit einem wahren Kern, immer mit dem gleichen Titel, aber „fein säuberlich durchnummerieret“ (Nr. 18 vom 11.02.2019).