Jedes Jahr aufs Neue war mein Großvater nervös und gereizt, wenn aus Amerika ein Päckchen von seinem jüngeren Bruder Emil für Johanna ankam, alles kam wieder in ihm hoch, er wollte so gern vergessen, dass seine Frau Ella ein Verhältnis mit Emil angefangen hatte.
Obwohl er um nichts auf der Welt seine kleine Johanna wieder hergeben würde, er liebte dieses kleine, wunderschöne Mädchen abgöttisch, dass von allen nur „Püppchen“ genannt wurde.
Ella hatte gerade die Kinder ins Bett gebracht und las ihnen noch eine Gutenachtgeschichte vor.
Unruhig ging Johann im Zimmer auf und ab, dann holte er eine alte hölzerne Zigarrenkiste hervor, in der Ella Fotos der Kinder aufbewahrte.
Es suchte nach einem schönen Foto von Johanna, meistens war sie zusammen mit den anderen Kindern oder mit deren Mutter auf den Fotos abgelichtet, doch nachdem er ein wenig herumgestöbert hatte, hielt er das Schwarzweiß- foto, nach dem er gesucht hatte, in der Hand, es zeigte Johanna auf einem Dreirad, mit dicken Ballonreifen, die Sonne schien auf ihr zartes Gesichtchen, was ihre großen, hellgrünen Augen noch mehr strahlen ließ. In einem Mini-Anhänger stand ein Milchfläschchen, aus dem sie noch immer gern trank, daneben lagen ein kleines Wildblumensträußchen und ihr geliebter Teddybär, der nie fehlen durfte. Sie trug ein helles Kleidchen mit einem runden Kragen, auf dem ein Blütenmuster zu sehen war. Das kleine Mädchen lächelte direkt in die Kamera.
Johann setzte sich, mit dem Foto in seiner Hand, schwerfällig an seinen Sekretär, seufzend nahm er einen Bogen Briefpapier und eine Schreibfeder und begann einen Brief an seinen Bruder zu schreiben.
Lieber Emil,
begann er, besann sich dann jedoch, „nein, LIEBER werde ich nicht schreiben, nach alldem, was er mir angetan hatte“ , dachte er, zerknüllte den Brief und warf ihn auf den Boden, sogleich begann er von neuem:
Hallo Emil,
im Namen von Johanna möchte ich dir für das Geburtstagspäckchen danken.
„Nein, ich MÖCHTE ihm nicht danken!"
Wieder nahm er den angefangenen Brief und zerknüllte auch diesen, er landete ebenfalls auf dem Fußboden.
So ging es noch vier begonnene Briefe weiter. Schwer stützte er sein Kinn in der rechten Hand.
„Warum fällt es mir so schwer zu vergeben?", dachte er. „Als kleine Jungen waren wir uns so nah, besonders nachdem wir unsere Eltern so früh verloren hatten. Als wir im Waisenhaus waren und Angst hatten, einander zu verlieren, auseinandergerissen zu werden." Schwer atmend strich er sich sein dichtes, schwarzgewelltes Haar aus der Stirn und setzte erneut an zu schreiben, doch diesmal beendete er seinen Brief:
Hallo Emil,
schön, dass Du an den Geburtstag meiner kleinen Johanna gedacht hast, sie hat sich sehr über den Dackel und die Naschereien gefreut.
Dennoch möchte ich Dich bitten, es in Zukunft zu unterlassen, denn sie fragt schon, woher die schönen Sachen kommen und vor allem von wem. Auch die anderen drei hören nicht mehr auf Fragen zu stellen, besonders unsere Große, die Ella. Sophie ist eifersüchtig auf das Spielzeug.
Von den Süßwaren hast Du so viel geschickt, dass sie sich alle daran gütlich taten und ich muss gestehen, dass sogar ich nicht widerstehen konnte.
Ansonsten hoffe ich, dass es Dir gut geht. Du hast geschrieben, dass Du Dich verlobt hast und im September heiraten wirst, dazu wünsche ich Dir und Deiner Braut viel Glück.
Ich habe kürzlich das Gelände der alten Munitionsfabrik in Quickborn-Heide erworben, wir sind dabei, eines der Häuser zu restaurieren und hoffen, es bis Ende September so weit zu haben, dass es bewohnbar ist und wir dort einziehen können.
In Deutschland ist nichts mehr wie es war, seit Du fort bist.
Sicher hast Du schon gelesen, dass der Österreicher Hitler inzwischen von der NSDAP für das Reichspräsidentenamt nominiert wurde und Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt wurde.
Die durch den Zusammenbruch der New Yorker Börse ausgelöste Weltwirtschaftskrise hat mehr als sechs Millionen Arbeitslose hervorgebracht, davon sind allein hier in Deutschland 44% betroffen.
Der Nationalsozialismus ist auf dem Vormarsch und unsere politische Lage bereitet mir ehrlich gesagt Angst.
Zum Glück habe ich meine Arbeit noch und es sieht nicht so aus, als würde ich sie verlieren.
Ich wünsche Dir alles Gute, vor allem Gesundheit und Zufriedenheit.
Ich lege Dir ein Foto von Johanna hinzu, da Du sie ja noch nie gesehen hast.
Wie Du siehst, hat sie die Augen unserer Mutter, sie ist ein gesundes, fröhliches Kind, unkompliziert und intelligent. Ich bin stolz auf die Kleine und liebe sie über alles, genau wie all meine Kinder!
Mit freundlichen Grüßen auch an Deine Verlobte Kate,
Dein großer Bruder,
Joe
Teil 38 folgt
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Kommentare
Schön, wie Du hier von Deinen Ahnen uns erzählst ...
und freundlich sind die Worte, die Du wählst.
Wir freuen uns schon auf den nächsten Teil ...
doch lass Dich nur nicht hetzen, keine ungesunde Eil.
Liebe Grüße,
Annelie
Ein Blick, der sich rentiert:
Geschichte fasziniert!
LG Axel