Er war groß. Der hoch aufgeschossene, junge Lockenkopf blieb stehen, holte aus seiner rechten, hinteren Hosentasche etwas Weißes, Zusammengefaltetes heraus und breitete es aus. Es war eine Plastiktüte. Nachdem er sie auf den Boden gelegt hatte, strich er sie glatt und setzte sich, in nur zwei Metern Entfernung zu ihrer Picknickdecke, darauf ins Gras. Er hätte sich weiter weg setzen können, denn auf der Wiese am Flussufer war Platz genug. So früh war man hier oft allein.
„Schöner Tag heute“, sprach sie ihn an, sie wollte höflich sein.
„Das weiß man noch nicht. Der Tag ist noch nicht zu Ende“, antwortete er, ohne in ihre Richtung zu blicken.
Sie zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Ja, aber das Wetter ist schön heute.“
„Bis jetzt schon. Es ist noch früh.“
„Dann ist es eben ein schöner Morgen. Zufrieden?“
Sie konnte keine Regung in seinem Profil entdecken. Plötzlich fühlte sie sich unbehaglich und suchte eine bequemere Sitzposition.
„Ich lese gerade einen wunderbaren Roman“, versuchte sie einen letzten Gesprächsbeginn. Warum, wusste sie nicht einmal.
„Ich lese nicht, wenn ich etwas anderes tu.“
„Sie tun nichts anderes“, widersprach sie.
„Ich sitze hier und höre den Vögeln zu und sehe in den Himmel und beobachte die ersten Bienen und Hummeln. Ich rieche das Wasser und schaue mir die Boote und Flussdampfer an. Ich tue viel.“
„Ach, das mach ich nebenbei.“ Sie wandte sich wieder ihrer Lektüre zu, konnte sich aber nicht auf den Inhalt der Worte konzentrieren.
„Ich rede nicht gern, wenn die Vögel singen.“
Kopfschüttelnd drehte sie sich etwas von ihm ab. Blätterte zurück. Und zurück.
Nach einer Weile wagte sie einen scheuen Blick in seine Richtung. Er saß unverändert da. Sie sammelte sich und suchte angestrengt die Stelle, bis zu der sie bereits gelesen hatte.
Nun sah der Lockenkopf doch zu ihr herüber.
„Hören Sie?“, fragte er.
Sie blickte über ihre Schulter. „Wie, bitte?“
„Sie singen nicht mehr.“
„Wer?“
„Die Vögel schweigen.“
Sie ließ die Lektüre sinken und lauschte.
„Sie haben recht. Warum haben die Vögel aufgehört, zu singen?“
Er hob die schmalen Schultern. „Weiß nicht. Aber nun rede ich mit Ihnen. Ich lese nicht.“
Die Frau räusperte sich. „Worüber wollen Sie mit mir reden?“
„Warum sitzen Sie hier allein?“
„Ich habe Urlaub und mein Mann hat keine Zeit. Und Sie?“
„Ich sitze hier allein, weil ich allein bin. Ich bin gerne allein.“
„Haben Sie keine Freunde?“
„Nein. Keine. Ich bin gern allein.“
„Aber nun reden Sie immerhin mit mir.“
Er nickte. „Ja. Ich muss das üben.“
„Das klingt so, als ob es eine Hausaufgabe wär.“
„So etwas in der Art, ja.“ Sein Interesse galt sogleich seinen Schuhen. Er zog die Schnürsenkel zurecht, sodass die Schlaufen und Enden gleiche Längen hatten. „Ich muss Vieles üben.“
„Was denn noch?“
„Busfahren. Und Zugfahren. Einkaufen … Kochen. Leben. Ich muss das Leben üben.“
Er hob seinen Kopf und sah sie aus den Augenwinkeln an.
„Was machen Sie so beruflich?“ Sie erwartete, dass er ihr nun von Sankt Wilhelminen erzählen würde, einer Behindertenwerkstatt, die in der Nähe lag.
„Ich bin Student.“
Sie verkniff sich ein verwundertes oh.
„Was studieren Sie denn?“
„Physik, Chemie und Informatik.“
„Das sind aber sehr schwierige Fächer, nicht wahr?“
„Nein. Gar nicht. Es ist alles logisch. Logik ist gut. Leben ist nicht logisch und darum übe ich es.“
Nun lächelte die Frau. Sie legte das Buch beiseite.
„Möchten Sie mit auf meiner Decke Platz nehmen?“
Als er zögerte fügte sie hinzu: „Das gehört zur Übung. Das macht man oft so.“
Er nickte stumm, erhob sich, hob die Tüte auf, faltete diese akkurat zusammen und ließ sie wieder in der rechten, hinteren Hosentasche verschwinden. Er trat heran, bückte sich und strich die Decke dort glatt, wohin sie ihm gewiesen hatte, sich zu setzen.
„Ich ziehe meine Schuhe aus“, meinte er und zeigte dabei auf ihre Schuhe, die neben der Decke im Gras standen.
Als er sich seiner Schuhe entledigt hatte, stellte er sie neben die ihren. Er brauchte einen Moment, sie im rechten Winkel zur Deckenkante auszurichten und die Schnürsenkel in die Schuhe zu legen. Er setzte sich umständlich.
„Versuchen Sie, mich ab und zu kurz anzusehen, wenn wir uns unterhalten. Schauen Sie mir dabei in die Augen.“
„Das fällt mir schwer.“
„Es gibt einen Trick. Schauen Sie mir nicht in die Augen sondern auf die Stelle dazwischen, auf die Nasenwurzel. Dann sieht es so aus, als ob …“
Der Lockenkopf versuchte es und tatsächlich hatte sie den Eindruck, er würde ihr direkt in die Augen schauen.
„Jetzt haben Sie etwas Wichtiges gelernt.“
„Vielen Dank. Und jetzt üben Sie mit mir reden.“
„Gut. Wir üben Small Talk. Wäre Ihnen das recht?“
„Ja. Die Vögel singen ja noch nicht wieder.“
Solange die Vögel nicht singen
von Corinna Herntier
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