Lineare Berechnung mit zwei Unbekannten - Page 2

Bild von Magnus Gosdek
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er sich in die Mitte der Kabine, um eins mit der Vibration zu werden.
Zunächst beachtete er den sechsjährigen Jungen gar nicht, der sich neben ihn drängte und zu ihm hinaufsah. Er wusste auch nicht, dass Marianne Maiersfeld unten in der Talstation nach ihrem kleinen Sohn suchte, der es aus unerfindlichen Gründen geschafft hatte, sich an der Kontrolle vorbei zu mogeln und in die Kabine der Bahn zu schlüpfen.
Der Junge besaß einen ausgeprägten Sinn für Außergewöhnlichkeit und erkannte sofort, dass dieser Mann bei Weitem das beste Objekt seiner Neugierde war.
„Was machst du da?“ fragte er und erregte damit Claus-Maria Wunischeks Aufmerksamkeit, der nun zu dem Jungen hinabblickte.
„Ich genieße die Fahrt“, entgegnete er, wobei er darauf bedacht war, die Uhr nicht aus dem Auge zu lassen.
„Warum guckst du dann immer auf die Uhr?“ fragte der Junge weiter.
„Wo ist denn deine Mutter?“ entgegnete Claus-Maria Wunischek, entschlossen, sich nicht von seinen Studien abhalten zu lassen.
Der Junge zeigte mit dem Finger rückwärts in Richtung der Talstation, die sich langsam weiter entfernte und mittlerweile nur noch als gähnender Drachenmaul zu erkennen war.
„Und dein Papa?“ fragte Claus-Maria Wunischek, der inständig hoffte, dass der Vater nicht auch unten im Tal geblieben war. Der Junge aber zuckte nur mit den Schultern.
„Oh“, sagte der Mann und dies war alles, wozu er bei dieser Unvorhersehbarkeit fähig war.
„Fahren wir ganz nach oben?“ wollte der Junge wissen.
„Müssen wir wohl“, sagte Claus-Maria Wunischek, dem langsam bewusst wurde, dass das Risiko, den Jungen nicht mehr los zu werden, exponentiell stieg. „Wie heißt du denn?“
„Klaus und ich bin sechs“, sagte der Junge.
„Ich heiße auch Claus“, entgegnete der Mann und der Junge strahlte.
„Claus-Maria“, ergänzte der Mann korrekterweise.
„Das ist ein komischer Name“, lachte der Junge.
„Warum findest du ihn komisch?“ fragte der Mann.
„Maria heißen doch Mädchen“, erklärte der Junge.
„Nun, scheinbar nicht. Ich heiße ja auch so.“
Der Junge sah an dem Mann hoch, als hoffte er, etwas Weibliches an ihm zu entdecken und lachte wieder. Gerade in diesem Augenblick erreichte die Bahn die Bergstation und Claus-Maria Wunischek ärgert sich, die Dauer der Fahrt nicht ordnungsgemäß gestoppt zu haben. Die Kabinentür öffnete sich und sogleich sprang der Junge hinaus.
„Hey!“ rief der Mann ihm hinterher und hatte Mühe, dem kleinen Klaus zu folgen.
Glücklicherweise hielt der Junge fast augenblicklich inne. Claus-Maria Wunischek war überrascht, welchen Einfluss er auf Kinder nehmen konnte. Wie enttäuschend musste es für ihn sein, als er bemerkte, dass der kleine Klaus nicht wegen seinem Rufen stehen geblieben war. Vor ihm lag die leicht abfallende Aussichtsplattform, von wo aus das gesamte Tal überblickt werden konnte. Doch das kümmerte den Jungen nicht; vielmehr rechter Hand die Rutsche, welche wie eine überdimensionierte Krake den Berg hinauf gekrochen zu sein schien und ihre Tentakeln überall auf der Wiese ausgebreitet hatte.
„Boah!“ rief Klaus und wandte sich zu dem Mann um, da er bereits von seiner Mutter wusste, dass solche Vergnügungen immer Geld forderten.
„Gehst du mit mir auf die Rutsche?“ fragte er und öffnete seine Augen weiter, dass die Pupillen wie regennasse Haselnüsse funkelten.
„Deine Mama wartet sicher im Tal“, entgegnete der Mann.
„Ooch, bitte!“ flehte der Junge und Claus-Maria Wunischek befand, dass Kinder noch viel unberechenbarer als Frauen waren.
„Komm, ich hole Fahrkarten, damit wir sogleich wieder hinabfahren können“, sagte der Mann und streckte dem Jungen die Hand entgegen.
„Dann kauf mir ein Eis“, sagte der Junge entschieden.
„Unten im Tal“, entgegnete der geschlagene Mann.
Noch während Claus-Maria Wunischek hinter dem Jungen her lief, hatte er die prozentuale Wahrscheinlichkeit abgewogen, dass die Mutter von der Bergtour ihres Sohnes überhaupt nichts wusste und immer noch die Kinderspielplätze der Talstation absuchen würde. Es war also das Sinnvollste, umgehend hinab zu fahren und so stieg Claus-Maria Wunischek zusammen mit dem kleinen Klaus zehn Minuten später wohlgemut in die Kabine.
Für gewöhnlich fuhren die beiden Bergbahnen am Gipfel und im Tal gleichzeitig los und gerade aus diesem Grund war die Abtsche Weiche eingebaut worden. Für einen kurzen Augenblick glitten die beiden Kabinenwagen aneinander vorbei, dass man gegeneinander hineinschauen konnte, so wie es der Junge in diesem Augenblick tat.
„Mama!“ rief er und winkte.
Marianne Maiersfeld hörte ihren Sohn zwar nicht, aber erblickte ihn sofort und gestikulierte wild; doch schon war die Bahn vorbei, noch ehe Claus-Maria Wunischek die Frau richtig erkennen konnte.
„Das war meine Mama!“ strahlte Klaus und ließ Claus-Maria Wunischek schmerzhaft erkennen, wie fehlerhaft seine penible Wahrscheinlichkeitsberechnung war.
„Sie kommt sicher sofort mit der nächsten Bahn zurück“, sagte der Mann und tätschelte dem Jungen den Kopf.
Er konnte nicht wissen, dass die Mutter in ihrer Aufregung, wo der Sohn schon wieder abgeblieben war, ihr Portemonnaie verloren hatte und nun an der Bergstation sich hektisch abtastete, ob es sich nicht doch in ihrer Kleidung wiederfand. Auch konnte Claus-Maria Wunischek nicht ahnen, wie mühsam es für sie war, sich das Geld für die Fahrkarte zu leihen. Kurzum, Marianne Maiersfeld kam nicht mit der Bahn ins Tal, was den Mann wiederum in helle Aufregung versetzte, während der Junge an seinem Eis leckte und die Beine baumeln ließ.
Mit der darauf folgenden Bahn fuhren die beiden den Berg wieder hinauf und dies war just der Augenblick, dass die Mutter genügend Geld beisammen hatte, um ihrerseits hinunter zu fahren.
„Mama!“ rief Klaus und winkte erneut zu der anderen Kabine hinüber. Die Mutter schien etwas rufen zu wollen, doch der Moment war bereits vorüber. Claus-Maria Wunischek hatte sich erneut geirrt, immerhin aber schien ihm das Verhalten der Frau Methode zu haben.
„Beim ersten Mal ist deine Mutter direkt in der nächsten Bahn gefahren. Danach jedoch mit der zweiten. Es ergeben sich somit drei Möglichkeiten, was sie nun tun könnte. Sie kommt mit der nächsten Bahn, um eine 1-2-1 Reihe zu schaffen. Für eine lineare Entwicklung 1-2-3 nutzt sie erst die dritte Fahrt. Doch auch die vierte Bahn ist möglich, um einen exponentiellen Reihenverlauf 1-2-4 zu erlangen“, erklärte Claus-Maria Wunischek dem Jungen.
„Gehst du mit mir auf die Rutsche?“ fragte der kleine Klaus unbeeindruckt.
Der Mann überlegte, wie hoch das Risiko eines Unfalls sein mochte, die Mutter ihn daraufhin verklagen konnte und er den Rest seines Lebens Schadenersatz zahlen musste. Er kam zu keinem Ergebnis; die Berechnung enthielt zu viele Variablen und dementsprechend erschien ihm die Rutsche äußerst gefährlich.
„Bitte!“ bettelte Klaus und Minuten später fand sich Claus-Maria Wunischek auf der zwanzig Meter hohen Plattform der Rutsche wieder.
So gelang es dem Bahnbeamten, der von der Talstation informiert worden war, nach einem sechsjährigen Jungen Ausschau zu halten, nicht, die beiden ausfindig zu machen. Als der Beamte dies zurück an seinen Kollegen ins Tal meldete, stieg Panik in Marianne Maiersfeld auf.
„Vielleicht kommt er gerade mit der Fahrt hinunter“, versuchte der Beamte sie zu beruhigen.
Doch in dieser zweiten Bahn, die Minuten später sanft in die Station einlief, war Klaus nicht mit dabei und die Mutter überzeugt, dass etwas passiert sein musste.
Immerhin hatte sich Marianne Maiersfelds Portemonnaie wiedergefunden. Sie verlor es aus ihrer Jackentasche, als sie in ihrer Hektik in die Fahrkabine gestiegen war und der Bahnbeamte es bemerkte. Nachdem sie wieder ins Tal gekommen war, gab er es ihr zurück und nun, in der Panik, was mit ihrem Sohn geschehen sein mochte, konnte sie ihre Fahrkarte wieder bezahlen.
8 Minuten und 23 Sekunden können so lange dauern, wie eine Reise zum Mond, gerade wenn man die Ankunft herbei sehnt. Auch fünf mögliche Sekunden Varianz lindern diese Ungeduld nicht. Kaum erreichte die Bahn den Gipfel, stürmte Marianne Maiersfeld aus der Kabine und suchte nach ihrem Sohn.
Das vergnügte Geschrei eines Jungen lenkte ihre Aufmerksam auf die Rutsche. Sofort erblickte sie ihren Klaus, der mit einem verstört dreinblickenden Herrn die offene Mulde der Halbschalenrutsche hinuntersauste.
„Klausi!“ schrie sie und rannte ihm entgegen.
„Mama!“ rief der Junge, der sie wohl gehört hatte. Er landete auf dem Boden am Ende der Rutsche, sprang auf und lief auf sie zu.
Claus-Maria Wunischek folgte ihm langsam, während Marianne Maiersfeld sich hinkniete und ihren Jungen fest in die Arme drückte.
„Was hast du denn jetzt wieder angestellt?“ fragte sie, doch ohne wirklich böse zu sein.
„Wir sind auf der Rutsche gewesen“, rief Klaus begeistert, wandte sich in den Armen seiner Mutter um und zeigte auf Claus-Maria Wunischek. Marianne Maiersfeld sah zu dem Mann empor.
„Danke, dass sie auf ihn aufgepasst haben“, sagte sie.
„War mir ein Vergnügen“, entgegnete der Mann nicht ganz wahrheitsgemäß.
Doch beide lächelten. In Marianne Maiersfeld Augen wirkte der Mann ein wenig statisch, doch keinesfalls unfreundlich. Claus-Maria Wunischek gefiel ihr.
„Lassen sie uns einen Kaffee trinken. Dann kann Klausi noch eine Weile rutschen“, sagte sie.
Verunsichert nickte der Mann. Erstaunliches war geschehen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Claus-Maria Wunischek eine Frau getroffen, die er statistisch berechnen konnte und darüber hinaus schien sie lineare Steigerungen zu bevorzugen, was ihm sehr entgegen kam.
Es schien, als könne sich aus der zufälligen Begegnung durchaus eine konstante Beziehung erwachsen. Doch leider war dieser Entwicklung keine Nachhaltigkeit beschieden. Obwohl die beiden sich in dem Café näher kennenlernten und sich darüber hinaus öfter im Urlaub trafen, kam Claus-Maria Wunischek letztendlich zu dem Schluss, dass Marianne Maiersfelds gedankenloses Verhalten auf Dauer doch zu viele statistische Ausreißer auswies, als dass eine überlegenswerte Beziehung exponentiell gegen Unendlich wachsen konnte.
Doch nicht allein der Mann bemerkte schnell, dass es für die beiden keine gemeinsame Zukunft gab. Für Marianne Maiersfeld war Claus-Maria Wunischek auf Dauer einfach zu langweilig.

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Kommentare

31. Jul 2016

Nicht langweilig wie Wunischek:
Die Story schön erfüllt den Zweck!

LG Axel

03. Aug 2016

Zwei Parabeln, die sich trafen
am Nullpunkt. Ach, ihr armen Graphen ...

04. Aug 2016

Vielen Dank, Euch beiden. Ich werde es Herrn Wunischek ausrichten, wenn ich ihn in irgendeinem Café treffen sollte. LG Magnus

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