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Claus-Maria Wunischek war ein stiller Mensch. Das bedeutete nicht, dass er weniger zu sagen gehabt hätte als seine Artgenossen, welche ihre Meinungen im ungefilterten Enthusiasmus in die Welt hinaus posaunten. Für ihn bestand das Universum aus mathematischen Gleichungen und nur das Wissen um ihr Wesen erlaubte es ihm, eine verifizierte Aussage zu treffen. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, seine Meinung ohne ein Ergebnis solcher Berechnungen von sich zu geben.
Hätten seine Mitmenschen in einem Weltorchester auch die Blechinstrumente gespielt, so wäre dort Claus-Maria Wunischek zweifelsohne die Triangel zugefallen; und obwohl er damit nur einen, wohlgezielten Ton hervorbringen konnte, hätte er sich der Aufgabe mit der leidenschaftlichsten Hingabe gewidmet, zu der er fähig gewesen wäre.
Nun spielte er in keinem Orchester und so konzentrierte er seine ganze Begeisterung auf Bergbahnen. Sie besaßen einen Anfang- und Endpunkt. Auf der Strecke bewegten sie sich gleichmäßig, dass sie sich hervorragend für verschiedene Berechnungen eigneten. Unaufhaltsam wurde die Bahn gemächlich den Berg empor gezogen und der Mann verspürte eine innere Zufriedenheit beim Anblick dieser stillen Eleganz, die vollständig seinem Wesen entsprach.
In Europa gab es über zweihundertfünfzig dieser Bergbahnen und Claus-Maria Wunischek war die meisten von ihnen gefahren. Genaugenommen hießen sie Standseilbahnen, da sie sich auf Schienen bewegten und es gab verschiedene Typen. Manche besaßen nur einen Schienenstrang, andere wiederum zwei oder drei. Bei einigen der Eingleisigen war in der Mitte eine Abtsche Weiche eingebaut worden; eine Ausweichgelegenheit, die wie ein riesiges Ei aussah und es beiden sich entgegenkommenden Bahnen ermöglichte, aneinander vorbei zu fahren. Diesen Moment, wenn die Kabinen parallel aneinander vorbeiglitten, befand Claus-Maria Wunischek als besonders erhebend. Für ihn war es der Augenblick, in dem die Schönheit der Mathematik für alle Welt sichtbar wurde, und somit war es auch nicht verwunderlich, dass der Mann diese Art von Standseilbahnen bevorzugte.
Für seinen Urlaub wählte er stets einen Ort, an dem eine solche Bahn fuhr, doch dauerte es immer eine Weile, bis er sich entschloss, in die Kabine einzusteigen. Zumeist verbrachte er die ersten Tage damit, im Café der Talstation zu sitzen und die Bahn bei ihrer regelmäßigen Fahrt zu beobachten. Es gab so viele Details zu würdigen, dass er nicht müde wurde, die Stahlseile, Zahnräder und Verstrebungen zu begutachten, bis ihn das Gefühl überkam, die Anlage so gut zu kennen, als habe er sie selber gebaut. Erst dann löste er ein Ticket, stieg ein und stellte sich in die Mitte der Kabine. Er brauchte keine schöne Aussicht, konzentrierte sich ganz auf das Vibrieren unter den Schuhen und versuchte, eins mit den ruckeligen Bewegungen zu werden.
Wenn sie schließlich die Endstation erreicht hatten, setzte er sich wieder in ein Café, von dem aus eine imposante Sicht über das Land zu genießen war, nahm sein Notizbuch aus der Jackentasche, in dem er sämtliche Bahnen eingeschrieben hatte und hakte die entsprechende Bahn, mit der er an diesem Tage gefahren war, ab. Dann lehnte er sich zurück, trank seinen grünen Tee mit einem Schuss Zitrone und war zufrieden. So sah also das Ende aus.
Manchmal fuhr Claus-Maria Wunischek auch mit einer Hochseilbahn, aber das Ergebnis war nicht zufriedenstellend. An den Stahlseilen hängend fehlte ihm die Bodenhaftung. Das Erreichen der Bergstation erschien ihm mehr ein glücklicher Zufall denn notwendiger Konsequenz technischer Baukunst. Für Claus-Maria Wunischek war diese Fahrt nicht berechenbar und dementsprechend äußerst unzulänglich.
Claus-Maria Wunischek war als Analyst in einer großen Firma tätig, in der er sich stundenlang mit den Wirrungen von Zahlen beschäftigen konnte und dabei nicht müde wurde. Sein Leben war Teil des Dezimalsystems, was ihn verständlicher Weise veranlasste, in der Freizeit sämtliche Daten und Fakten der Bergbahnen, deren er habhaft wurde, zu studieren und vergleichen.
Claus-Maria Wunischek lebte allein. In Sachen Frauen ließen sich die genauen Berechnungen nicht anwenden, was ihn zutiefst verunsicherte. Mochte ihn dieser Umstand eine Weile unglücklich gemacht haben, verschwand dieses Gefühl mit der Zeit. Nun beschäftigte er sich ausschließlich mit Standseilbahnen, und da diese in ihrem Artikel ebenfalls weiblicher Natur waren, schafften sie ihm, wenn auch nur zweifelhaften Ersatz.
Die schönste Bahnstrecke lag seiner Meinung nach in Zakopane. Doch die Innenstadt war überlaufen und die üblichen Souvenirstände für Touristen lagen zu dicht an der Talstation, dass Claus-Maria Wunischek die Bahn in Krynica-Zdroj vorzog. Sie war kleiner und führte mitten durch den Wald, dass sie vom Café im Tal nicht gut einsehbar war. Doch konnte er sich immerhin friedlich seinen Forschungen widmen.
Nach seinen Studien wusste der Mann, dass die Strecke 584 Meter lang war und dabei einen Höhenunterschied von 148 Metern überwand. Die Fahrt dauerte 8 Minuten und 23 Sekunden, was Claus-Maria Wunischek mit seiner Uhr gestoppt hatte. Nur die 23 Sekunden mochten variieren, was sicherlich an der unterschiedlichen Geschicklichkeit des Bahnpersonals lag. Doch schätzte der Reisende, dass die Varianz nicht mehr als fünf Sekunden betragen konnte.
Somit hätte Claus-Maria Wunischek auch die Geschwindigkeit ausrechnen können, mit der die Bahn sich fortbewegte. Überraschenderweise aber interessierte ihn dies nicht. Es genügte ihm, dass sie gleichbleibend fuhr und somit unweigerlich zur Endstation gelangte. Die Bahn konnte sich damit ruhig ein wenig Zeit lassen.
So floss Claus-Maria Wunischeks Leben dahin, wurde gleichmäßig von Stahlseilen gezogen, die ihm jene höchstwahrscheinliche Gewissheit bescherten, die er als kalkulierbar empfand. Es mag niemanden erstaunen, dass dieser Mann somit keine Überraschungen mochte.
Dass sich Marianne Maiersfeld gerade diesem Charakter anvertrauen musste, mochte für sie eine Ironie des Schicksals sein. Bei ihr waren Überraschungen an der Tagesordnung. Mal verlor sie ihren Hausschlüssel, dann wieder platzte der Wasserschlauch an der Waschmaschine. Ganz zu schweigen von ihrem sechsjährigen Sohn, der ausgesprochen neugierig war und zu eigenmächtigen Erkundungstouren aufbrach, dass sich die Mutter ständig auf die Suche nach ihm begeben musste.
Doch Marianne Maiersfeld ertrug dies alles mit Gleichmut. Sie war daran gewöhnt und darüber hinaus überzeugt, dass das Universum ohnehin nur einem einzigen Chaos glich, ebenso wie die Gewissheit, dass sie daraus immer etwas Neues ergab.
An einem sonnigen Septembernachmittag befand Claus-Maria Wunischek, dass er die Bergbahn in Krynica-Zdroj genügend erforscht hatte, um nun endlich wieder eine Fahrt auf den Gipfel hinauf genießen zu können, dass sich die 8 Minuten und 23 Sekunden Zeit als dauerhaft bestätigen würden, ohne statistische Streuungen hervorzurufen. Wie gewöhnlich stellte
Kommentare
Nicht langweilig wie Wunischek:
Die Story schön erfüllt den Zweck!
LG Axel
Zwei Parabeln, die sich trafen
am Nullpunkt. Ach, ihr armen Graphen ...
Vielen Dank, Euch beiden. Ich werde es Herrn Wunischek ausrichten, wenn ich ihn in irgendeinem Café treffen sollte. LG Magnus
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