Was mich fasziniert im Sex, ist das Wegreißen von sonst intakten Abgrenzungen. Wie das zwischen mehr oder weniger Fremden sich bisweilen mühelos einstellt. In mir schäumt er wie eine Droge. Ich benötige ihn wieder. Ich bleibe auf der Suche. Wie gut ich meine Grenzen sonst auch verwahren mag.
Ich vertraue den meisten Menschen nicht. Namentlich, wenn sie sich aufführen, als könnte man ihnen jederzeit trauen. Ich öffne mich ihnen nicht. Ich bin der Isolierte. Wann immer die Menschen sich in alles verzeihender Mitmenschlichkeit verschwistern, liege ich am Rande wie die kühle, salzige Muschel.
Einmal, um anschließend wandern zu gehen, kauerte ich in einem Extra-Bus, der zu mitternächtlicher Stunde vom Öhringer Weinfest bis Krautheim reiste. Es ging rauf und runter, schaukelte um allerlei Ecken. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es draußen gerade aussah. Nur zum Aussteigen wurde angehalten. Das Gefährt war so übervoll mit betrunkenen Männern und Frauen, dass ich nur am Boden und gegen die Mitteltür mich hatte einquetschen können. Bei jedem Halt stießen sie mich an, stolperten mit teils immer noch nicht ganz leeren Weingläsern über mich. Jeder musste etwas sagen oder singen oder lachen oder einem zuprosten. Der Krach war grässlich. Alle liebten einander. Wäre irgendwas gewesen und sie hätten sich nicht mehr geliebt, hätten sie einander vielleicht zertreten oder zerrissen. Meine Angst war groß. Augenscheinlich war in diesem Geschoss ich der einzige, dem das Glück in jener Sommernacht nicht willig aus den Ohren kugelte. Gut, den Fahrer gab es auch, doch er war unerreichbar fern und abgetrennt von mir.
Was so gesehen erstaunlich ist: Beim Sex gebe ich meine Verriegelungen ein ums andere Mal aus der Hand, tue es gerne, gebe sogar den Anstoß. Auch mit völlig Fremden. Mein Zutrauen beruht auf eine fast sichere Gewissheit bezüglich der Kameradschaft maskuliner Geilheit
Manchen von denen sah ich kein einziges Mal richtig. Mein Sehvermögen unter zweifelhaften Lichtverhältnissen ist katastrophal. Aber das scheint meine Sicherheit eher noch zu erhöhen. Ich lasse mich von der Nettigkeit des Gesichts nicht irre führen. Seine Stimme höre ich ebenfalls nicht, denn er äußert keine Worte. Mein Vertrauen, dass das Richtige vor sich geht, kommt aus dem Entspannten wie doch auch Gezielten aller unserer Handlungen, aus dem Fluss körperlicher Regungen und Berührungen. Wer dich haben will und sich dessen nicht schämt, gibt sich dir gefasst und vertrauend zugleich schon hin. Das liest sich leicht, aber ich möchte jener gedenken, die sich und ihrem Drang einer Zielperson auf die Nase, das Auge oder sonst wohin drücken. Du hast mich zu nehmen, denn ich brauche es heute wie selten. Man kann abbrechen. Man sollte.
Während unser Sex sich entwindet, begegne ich mir selber in verschiedenen Personen, die ich kaum einmal an mir wahrnahm. So bin ich Sohn, nach langer Zeit doch wieder, und auf einmal ein Vater. Bin besonnen und fest. Aber wie öfters im Leben, würfelt ein neckischer Witzbold dort drinnen. Schon mag ich das Vorhersagbare nicht mehr und bin zur hüpfenden Mücke verwandelt, bin eine Kratzbürste, das schlitzige Gewächs im Sumpf. Dieses Umkehrende, vom anfangs Dienenden allmählich hin zum Steuernden, dem die Steuerhand Freude macht, scheint mein wahres Fach zu sein.
Uns treibt die nackte, die tierische Lust. Es soll nicht anders sein. Es soll nichts daraus werden. Es soll aber sein, was es jetzt und hier ist. Wir sind Brüder und sind es nur hier. Jeder Einzelne von uns ist in diesen paar Minuten alle, wohl nur vorübergehend, ist nicht länger sein Ich, nicht du, nicht der dort drüben. Wenn ich ficke, bin ich schon er. Ich kann spüren, wie ich gefickt werde, solange ich in ihm bin. Wir sind vom selben Stoff.
Du kennst die Szene inzwischen etwas und weißt, da ist kein Lustmörder auf der Jagd. Schwule vergewaltigen nicht. Es sind die Heterosexuellen, die das tun, sogar Frauen. Du zitterst, so wild sind sie geworden, werden sie aufhören, wenn du Stopp rufst? Aber ja, sie hören auf. Jedoch musst du es laut und klar tun, nicht nur in dein Gewissen flüstern. Sagen kannst du es ohne ein einziges Wort, denn Zeichen gibt es genügend.
Der Schriftsteller Harold Brodkey, hörte ich, soll seinen Sexpartnern vorgeworfen haben, sie hätten ihn in den Nuancen seines Menschseins niemals verstanden, sich dafür auch nicht interessiert, beim Sex in Wahrheit also benutzt und missbraucht. Das ist, sage aber ich, das Normalste. Denn nur partiell findet Sex mit dem einzigartigen und real anwesenden Partner statt, zu einem nicht geringen Teil auch mit Modellen, die man mit sich her transportiert hat. Wie kann man sich mit diesem einen Menschen deckungsgleich hinlegen, wenn, aufgerührt durch ihn, im Inneren die Träume meines ganzen Daseins wirbeln, ihre blitzenden Locken schwenken?
Über die Liebe hat Max Frisch gesagt, ihre Tragödie sei, dass sie sich an ein Abbild oder an einen Abgott klammert, den der Liebende aus dem Geliebten sich formt. Über bloßen Sex könnte man meinen, er albere herum mit der Haut, dem Fleisch, einem Körperbau und dessen Alter, einer Augenfarbe, dem Bart, Arsch oder Schwanz. In Wahrheit geschieht Sex, der einen auftut und umrührt, mit allen Formen, Mustern, Modeln, die übers Leben in einem auf Halde lagen, vielleicht bis jetzt noch nicht mal alle aufgeweckt.
Bisweilen mache ich Sex mit einem Menschen und es geht ganz gut, aber dann scheint eine elementare Gestalt aus ihm zu steigen. Diese Gestalt kenne ich, erkenne sie wieder: Der Junge. Das Mädchen. Das Luder. Der Mensch hingegen, der bei mir ist, dürfte sich selbst durchaus nicht als dieses sehen, was ich in ihm gefunden habe. Ihm gegenüber sollte ich hinterher nicht in Worte zu bringen versuchen, was er mir gegeben hat. Seine Erfüllung, bei der ich ja zugegen war, deren Komplize ich gewesen bin, rührte nicht aus der Lust, meinen vagen Träumen frisches Fleisch und Blut zu übergeben, sondern war, von meiner geschieden, die ihm eigene Ekstase. Die ihm angehörige Verflüssigung ins Gewoge seiner Trieb-Kräfte.
Er ist doppelgesichtig, der Sex von Mann zu Mann. Wie schnell und leicht das zugeht, als Glühwürmchen sich in den Schwarm kollektiver Sinnlichkeit zu mengen. Aber am Ende besteht jeder auf der Erfüllung des jeweiligen Konzepts, das er aus ungeklärten Quellen bis hier mitgebracht hatte. Die Koppelung von Sich-Weggeben und sexuellem Egoismus bei den Schwulen und Bisexuellen durchkreuzt am Ende alle Versuche einer Verstetigung. Auf solchen Sex lassen sich lange dauernde Bindungen nicht bauen. Dennoch, es gibt stabile und bergende Beziehungen, wie es auch mehr gibt als hinreißenden Sex in dieser Welt.
Aber gerade eben hat es geklungen durch uns. Hättet ihr nicht geschlummert, ihr hättet es nicht überhört.