Beim zweiten Mal waren Tobi und Micki dann nicht dabei. Zuerst noch nicht einmal Timo. Der Mann hatte auch nicht dran gedacht, dass es den Timo hier gibt. Er war fest von einer Begegnung mit Helmut ausgegangen.
Helmut und er hätten sich nebeneinander gesetzt, oben drauf auf eine Banklehne, und geredet. Helmut hätte von seiner Arbeit und den Kollegen berichtet. Zwischendurch hätte er sich lustig gemacht über die Schwulen, die an der Bank vorbeigekommen wären. Manche hätten sich neugierig neben sie gestellt, wären ignoriert worden. Schließlich hätte Helmut gefragt, was er getrieben habe, den Tag lang. Peter hätte gesagt, dass er spät aufgestanden wäre, gefrühstückt und Zeitung gelesen habe, dass er Wäsche waschen und Hemden hätte bügeln müssen, eingekauft habe er, sein Essen. Der Dings und der Dings, zwei, die Helmut nicht mochte, wären ihm noch über den Weg gelaufen. Ganz alt würden die jetzt aussehen.
Helmut hätte gesagt: „Ja, das Alter kann niemand aufhalten.“
Helmut hätte gesprochen:
„Du hast zu nichts Lust. Ich kenn das auch. Als ich ohne Arbeit war, war’s bei mir auch so. Erst macht es dir zu schaffen. Dann gewöhnt man sich und will nix mehr. Du musst jetzt was in Angriff nehmen! Die lassen dich nicht ewig. Eines Tages kommt dein Arbeitslosengeld weg. Dann bist du bei den Asozialen.“
Und so weiter, bis womöglich noch der gesprächige Alfred erschienen wäre.
Alfred hätte dann über die Ärschle von seinen Knaben im Hallenbad gesprochen. Wie diese Knaben Alfred sehr gern haben und dass er diese Ärschle ja mal ficken täte, denn knackig wären sie schon, aber im Bad, da halte er sich zurück, da sei er mit Eltern und dem Bademeister befreundet. Am Wochenende sei er in Freindersheim im Bossa gewesen und habe die Ärschle von zwei Achtzehnjährigen gehabt. An sich kriege er jedes Ärschle, das er sich aussuche, er wäre nämlich offensiv aktiv, er, Alfred, verstehe sich drauf, es rauszukitzeln aus ihnen, wenn einer was Passives in sich hätte.
Weder vom Helmut und Alfred noch von erstens Tobi, zweitens Micki, drittens Timo, das war die Rangfolge jetzt wieder, war was zu sehen. Und doch war drüben jetzt einer auf der Banklehne, wo Helmut und er sonst zu sitzen pflegten. Das war sogar ein Junger. Nicht so jung wie Tobi, Micki, Timo, so achtundzwanzig vielleicht, mehr so am Rand von „jung“.
Dieser Junge saß in heller Jeansjacke und Designerjeans, hatte kurzes hellbraunes Haar sowie ein rundliches Gesicht, das ganz nett wirkte. Natürlich stierte er vor sich raus, tat, wie wenn er - der Mann, Peter, der Lehrer - nicht vorhanden wäre.
Und so weiter.
Peter ging mehrfach vorbei und blieb zwei Meter von der Bank stehen. Zwischen der Packung Tempo-Taschentücher, Kondomen und seiner Tränengaspatrone kramte er nach den Camels, steckte eine an, sah noch mal hin. Der war sogar neu, der konnte ihn nicht kennen, den hatte er noch nie hier angetroffen. Ein sozusagen mongolisches Gesicht schien dieser Neue zu haben und das war ja schon irgendwie interessant.
Da nun, ohne seinen Kopf einen Millimeter gegen ihn hin gedreht zu haben, stieg der junge Mongole sanft von der Bank, ging längs, bog um die Ecke, bog zum Ausgang. Falsch wäre, sofort hinterher zu eilen. Es vertrieb sie. Eine Chance blieb, vielleicht holte er nur Zigaretten aus dem Auto.
Als der Mann aus dem Tor hinaus trat, war aber nirgendwo ein Wesen zu erspähen. Kein Auto war angefahren, alles lag totenstill. Also lief er hinein, lief die Seitenwege. In der Nähe relevanter Buschgruppen spitzte er die Ohren.
Dort war auch nichts.
Als er sich der Bank wieder näherte, bekam er halb noch mit, wie hinter der Baumecke einer wegduckte, in den Spielplatz. Dort drinnen schien jetzt was zu gehen.
Aber es war dann nur der Sherlock Holmes.
Ihn hatte man so getauft, weil er oft eine Mütze in der Art des englischen Meisterdetektivs trug, ein ungewöhnliches Stück. Sherlock Holmes aus Reuenthal war gegen sechzig, pflegte in letzter Zeit nur noch in Jeansjacke und Jeans zu erscheinen, die Mütze jetzt oft wegzulassen. Nie sprach er mit Parkbesuchern. Nach zwei, drei anfänglichen Runden stellte er sich senkrecht auf eine von den Bänken oben drauf, blieb oben stundenlang stehen. Nach einer Weile konnte man - im Vorbeigehen - seinen steifen Schwanz bemerken. Man konnte bleiben und um die Szene herumgehen. Sherlock Holmes tat und sagte nichts. Wenn der Mann mit Helmut unterwegs war, zeigte Holmes sein Teil nie.
Vor einem Monat, kaum war Helmut gegangen, war der Mann hingegangen und hatte diesen Detektiv erstmalig angefasst. Von dessen nachdenklichen Starren brachte sein Zugriff ihn keineswegs ab. Der Mann massierte ein bisschen Haut. Und nichts. Da die Sache fruchtlos erschien, hatte er irgendwann auch noch die andere Hand zur Hilfe genommen. Sherlock schien es darauf angelegt zu haben, völlig ungerührt zu verharren. Der Mann hatte erst einmal die eigene Hose und Unterhose heruntergelassen.
Um irgendwas noch zu beginnen, hatte er die Eichel zaghaft zu lecken angefangen. Wäre Helmut zurückgekehrt, hätte ihn beim Dienst für einen Sechzigjährigen erwischt, wäre ihre Freundschaft wohl eingekracht. Holmes’ knallenge Jeans war mittlerweile ein wenig heruntergepfriemelt gewesen und eine Hand auf seinem Hintern platziert. Den Engländer störte das nicht, aber die Erektion war stark.
Mittlerweile hatte der Mann es alles ein bisschen satt. Da riss Sherlock Holmes zu guter Letzt sich die Hose selber herunter und er erlaubte gewaltige Eingriffe zwischen die Schenkel. Der alte Leib war hyperreal stramm, poliert und geschmeidig. Als er ihm seine Fingerkuppe in eine der Höhlungen trieb, gab Holmes kaum merkliche Anzeichen zurück, der Lösung der Problems wäre man inzwischen entscheidend näher gekommen.
An einer dermaßen heiklen und pikanten Stelle könnte man in einem Buch nun Seite um Seite füllen. Schlünde taten sich hier nämlich auf, rare Säfte und Düfte schwangen sich auf, schwangen in den Schwindel einer Tiefe, doch nein, wir brechen besser ab. Zum Beschluss jedoch knickte der Brite ruckartig ab und gegen vorne und schaute einem fallenden Samenkorne hinterdrein, verhielt jetzt sehr stille und brav und gestattete dem Mann, Peter, ebenfalls die Lösung des Knotens nachzuvollziehen.
Und genau jetzt stand dieser soeben unscharf skizzierte Sherlock Holmes auf dem kleineren der Holzpodeste. Tags ließen Kinder an der Stahltrosse sich hier abgleiten. Das Prozedere blieb fast dasselbe, war somit absolut berauschend nun schon auch nicht mehr, da vorhersehbar geworden.
Zügig fiel die Gürtelschnalle. Kuppen der Finger setzten an. Laut und deutlich fing der scheue Mützenmann zu raspeln an, ja zu grollen. Und noch einmal war es fühlbar, jenes Gefühl, der Menschheit in ihrer Gesamtheit offeriere er, der Mann, gewisslich eher einen Fehlschlag und Augenschmerz, hingegen für einzelne, verstreute Angehörige dieser Menschheit war er sehr förderlich und beglückend, wenn es darauf ankam.
Als nun auch noch die Zunge ...
Aber exakt an dieser Stelle wäre es vielleicht geschickt, wenn nicht den Spötter Helmut, so den Jungen auf den Plan treten und einen Blick erhaschen zu lassen.
Eben zum Kulminationspunkt gelangt, verstand ja der Mann selbst nicht mehr, warum er sich derlei Dingen überhaupt hingeben konnte. Empört schmetterte er ein Papiertaschentuch in den Sand, riss sich Unterhose und Jeans an den Leib, das Klimpern der Gürtelschließe war grell. Ohne dem Detektiv noch einen Wimpernschlag zu gönnen, schnürte er seitlich fort durch die Lücke der Hecke, kurvte um die Ecke vom Spielplatz, erreichte kaum den Teer, da stand schon Johannes ihm Auge in Auge gegenüber. Und an dessen Seite auch der angedeutete Junge mit Namen Timo.
„Hei, Urschel, wie goht’s?“, röhrte Johannes. „Ist’s stramm am Laufen?“
„Ach, na ja, das Übliche. Paar Alte sind noch da.“
„Diesen Park kannst du vergessen“, schimpfte Johannes, gar nicht mal unvergnügt.
Timo sagte nichts. Timo stand und gab vor, den Mann noch nicht zu kennen.
„Kennt ihr euch? Das ist der Timo“, stellte Johannes vor, „der Peter.“
„Hallo.“
Timo quetschte es sich ab.
In der Ferne ging einer und ihre drei Köpfe folgten dem Entschwinden.
Bei Johannes handelte es sich um einen älteren Herrn, Anfang fünfzig, massig, mit zerfurchtem Sorgengesicht. Er trug eine Brille mit üblen, riesigen Tropfenform-Gläsern. Das Haar war tiefschwarz, das Schwarz der Schwärze, makellos gefärbt. Wie von ihm gewohnt wechselte Johannes quecksilbrig zwischen allerlei Stimmungen ab. Selbstmitleid, Hass auf jeden, gleich wieder Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft über die Maßen. Den Mann hatte er mit Handschlag begrüßt, ihm fast soldatisch den Oberarm gedrückt.
Und er roch nach Alkohol. Er war gefahren und guter Dinge, denn im Auto musste mit dem zerzausten Jungen Timo anscheinend was gelaufen sein.
Stricher hatten Johannes schon immer gelegen. Über genug Geld schien er zu verfügen und Verlorenem nicht nachzutrauern. Offenbar ließen die teils nicht unriskanten Jungmänner sich dadurch an der Kandare führen. Hatte man einen satt, zahlte man nichts mehr. Dann konnten sie schlecht betteln, denn die im Reuenthaler Park oder Batsch waren nie Professionelle oder gar Süchtige. Es waren freie Männer, sie probierten sich noch aus, hatten Ehre im Leib. Genau überlegt war jener Typ Stricher, auf den Johannes seit vielen Jahren spitzte, jung und schön, manierlich, sauber und verträumt, in Reuenthal allerdings noch niemals anzutreffen gewesen. Vielleicht eines Abends im Batsch, hier im Park sicher nie.
„Vater, wir wissen beide, dass die Schwulen hirnkrank sind, aber die!“, heulte Johannes über die Reuenthaler.
Er werde ja bald weg sein, tröstete Peter.
Etliche Jahre schon arbeitete Johannes nur noch im Ausland, rund um den ganzen Globus herum. Montage, technischer Dienst, zwei Jahre hier, drei dann dort. Als Nächstes würde es nun Saudi-Arabien werden. Dieses Mal hatte er gar kein gutes Gefühl, das hatte er ihnen, Helmut und Peter, mehrfach erzählt in den verstrichenen Monaten.
„Die Scheichs verstehn beim Geschwule kein Spaß. Selber vögeln sie wie die Weltmeister, alles, was da ist. Aber du bist dran, weil der Prophet es verboten hat. Die Reichen dürfen alles, die Armen werden mit Stockschlägen traktiert. Aber ich bin schon sicher vor dem. An Deutschland traun die Brüder sich nicht ran. Uns brauchen die Brüder noch, das ist ihnen klar.“
Was aus dem verspielten Ken, einem Neger in Nigeria, geworden sei.
„Ach du, der Ken kommt schon nicht um. Der sieht nicht schlecht aus. Schwul ist er auch, dass kracht. Mit dem Schaffen hat er’s wohl nicht so, in der Birne auch nix. Der fickt seinen nächsten Massa.“
Peter und Johannes lachten, Timo hörte nicht hin.
„Glaub mir, ich hab viel geschafft in dem Afrika. Da gibt’s kein Bimbo, wo nicht strohdumm ist. Aber lieb sind sie alle unheimlich. Ganz korrekte Menschen mit Herzen wie Gold und immer lustig. Wissen tun sie ja nix. Da klappt nix bei denen. Die kommen aus dem Elend niemals raus. Gott, Peter, du, so Länder, so liebe Leut, dann überall Elend!“
„Sexuell haben sie’s also drauf? Ken, zweiundzwanzig war er wohl?“
„Ja. Wie ein Kind, so verspielt. Kein Begriff vom Ernst des Lebens. Manchmal hab ich den rausschmeißen müssen, damit ich Ruh hab.“
„Er sieht gut aus?“
„Ach joaa, ich bin zufrieden g’wesen. Seine Familie, das sind alles sehr schöne Leut. Er hat ‘nen Bruder und ‘ne Schwester. Mutter Witwe, der Vater war Offizier. Aber ich mag die Neger eigentlich nicht so. Ich steh nicht wirklich auf das. Weiß und schwarz, das hat noch nie gepasst. Am Morgen werd ich wach, da liegt das Brikett neben mir im Bett, manchmal bin ich erschrocken.“
Timo lachte hart und böse.
„Brikett!“
„Bimbo eben. Zum Ficken gut, sonst fragst du nicht.“
Die ganze Zeit schon guckte der Mann auf den Jungen Timo. Der Junge hatte das gemerkt; er duckte sich weg hinter dem Massigen.
„Was machst du denn so? Scheinst öfter hier zu sein?“
Der Junge sagte nichts.
„Peter, was wird die Schwester machen? Arbeitslos ist sie! Wie ihr alle hier. Es geht keiner mehr in den Park, der sich was andres leisten kann. Der ist zum Assi-Treff verkommen, dieser Park.“
Timo verkrümelte sich um die Baumecke.
„Was macht er denn jetzt?“
„Keine Ahnung. Lass sie fliegen, kleine Schwalbe! Die kommt wieder.“
„Kennst du den? Ich seh ihn erst das zweite Mal.“
„Stricht sich so durch. Aber korrekt. Kann nicht klagen. Ziert sich, aber keine Abzocke.“
„Hast du was gemacht, vorhin?“
„Wir sind in die Weinberge raus. Bissel Dünger in die Landschaft verteilt. Das ist doch ein armes Tier. Ohne Arbeit, daheim haben sie ihn nur geplagt. Er ist ... U-hund Schwester? Waas geht?“
Timo war zurück.
„Deine Schwester bin ich nicht!“
„Weiß ich, weiß ich. Du wirst den Witz nicht krumm nehmen.“
„Schwester! Das sagen nur Schwuchteln.“
„Komm! Ich sag was anderes, wenn du es nicht magst. Ich geh jetzt auch. Da kommt doch eh nix mehr.“
Das wäre gut, Johannes gleich weg und nur er und der kratzbürstige Kleine noch da.
Aber jetzt fiel es Johannes ein! Vor seiner Heimfahrt wollte er schnell noch was trinken im Batsch. Timo solle doch mitkommen. Der Mann machte sich eine Notiz, ihn hatte er mit keinem Wort dazu eingeladen.
Im Assi-Park blieb Peter zurück. Er sah Timos schmalen Rücken neben dem massigen von Johannes durch das Tor ins Licht treten und dann verschwanden sie im Jenseits gemeinsam.