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O ihr Kinder der Gegenwart! Habt ihr es nicht gesehen?
Wenn Unfriede und Hass auf Erden herrschen, müssen auch
die toten Dinge viel leiden. Da wird die Woge wild und
raubgierig wie ein Räuber; da wird der Acker karg wie
ein Geizhals. Aber wehe dem, um dessentwillen der Wald
ächzt und die Berge weinen.
(Selma Lagerlöf, "Gösta Berling")
Pilze, Mannequins und Fische (Teil 15; 1. Hälfte)
„Sieht doch aber aus wie ein Pfifferling, oder nicht?“, verteidigte ich mich mit halbherziger Stimme.
„Aber auch nur entfernt, Katja“, sagte Kora. „Du darfst die Pilze auch nicht aus der Erde ziehen wie Kartoffeln“, belehrte sie mich. „Dreh den Stiel ganz sanft heraus und bedecke das Loch mit Erde. Sonst machst du das ganze Pilzgeflecht kaputt.“
„Okay“, gab ich kleinlaut zur Antwort.
„Und pflück bitte dort hinten“, rief sie mir zu und deutete auf eine Gruppe kleiner, orangefarbener Pilze, die unter einer hohen Kiefer wuchsen.
„Das sind ,Edelreizker', ganz hervorragende Speisepilze und total ungiftig.“
Wir duckten uns immer tiefer hinein ins zwielichtige Dickicht. Kora bewegte sich, als kröche sie auf allen vieren, und ich gab wohl ein ähnliches Bild zum Besten. Hoffentlich hält uns niemand für äsendes Wild oder gar exotische Wildsäue, ein leckerer Sonntagsbraten ohne Ende, bei dem es auf ein paar Kugeln mehr oder weniger nicht ankommt, dachte ich besorgt und robbte um die alte Kiefer herum.
Ich pflückte mit einer Emsigkeit, als wären Pilze mein Leibgericht, was mitnichten der Fall ist.
Auf dem Waldboden lag eine Schicht aus Kiefernnadeln, die dicker war als ein kostbarer Perser. Ich stellte mir den Geruch der Erde vor, wenn es regnen und sich der Nadelboden in einen riesigen Schwamm verwandeln würde: Eine Mischung aus den Düften von Harz, Unterholz und dem Aroma sonnenwarmer Pilze.
„Es reicht, Katja“, schrie Kora nach einer halben Stunde.
Endlich. Ich atmete erleichtert auf. Mir war die Lust längst vergangen und mein Rücken schmerzte entsetzlich.
„Schau nur, die Blumen sind ganz welk. Sie brauchen dringend Wasser.“ Kora zeigte auf Lenis Strauß, den ich dem Schatten einer Tanne anvertraut hatte.
„Kein Wunder, bei dieser Hitze“, murmelte ich.
Wir hielten Ausschau nach unseren Rädern.
„Ich hab 'nen Platten, so ein Schiet aber auch“, fluchte Kora, als wir sie endlich gefunden hatten.
„Und Lenis hat jemand mit einem Messer attackiert“, ließ ich Kora wissen, nachdem ich voller Entsetzen festgestellt hatte, dass beide Reifen zerstochen waren.
„So eine Gemeinheit. Hier ist vielleicht was los im Lachauer Forst.“
„Wieso?“, frage Kora entsetzt. „Ist hier etwa noch Schlimmeres passiert?“
Wenn du wüsstest, Kindchen, dachte ich.
„Bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als die Räder zu schieben“, stellte Kora wütend fest. Ich war froh, dass sie keine Antwort von mir erwartete, was den Lachauer Forst betraf.
„Bis wir auf dem Gut sind, ist der Strauß längst verwelkt, Katja.“
„Möglicherweise erholt er sich in einer von Tante Selmas Vasen. Dann bekommt Leni ihn eben erst heute Abend“, sagte ich.
Hannes kam uns entgegen.
„Ich habe ich mir Sorgen um euch gemacht, Katja. Tante Selma hat mir erzählt, dass Kora Pilze sammeln wolle. Du hast vielleicht Nerven, mit Kora allein in den Wald zu gehen“, rief er aufgeregt.
„Wieso?“, fragte ich empört. „Hätte ich sie etwa allein in den Forst lassen sollen?“
„Weshalb soll es hier plötzlich so saumäßig gefährlich sein?“, fragte Kora.
Ich sah Hannes vorwurfsvoll an. Er biss sich auf die Lippen und verzog sein Gesicht zu einem Lächeln – bis sein Blick auf unsere Fahrradreifen fiel.
„Wer, um Himmels willen, hat eure Reifen plattgefahren?“, fragte er entgeistert.
„Denk dir nur, Hannes, ein Dinosaurier wollte unsere Räder ausprobieren. Du hast mir doch selber erzählt, dass sie in Massen den Lachauer Forst bevölkern“, sagte Kora und lachte schadenfroh.
„Übrigens, nette Menschen, diese possierlichen Tierchen.“
Hannes schwieg und biss sich wütend auf die Lippen.
„Ich muss dich nachher dringend sprechen, Katja“, sagte er. Da brach er wieder durch, dieser herrische Ton, der mich zur Weißglut bringen konnte.
„Katja ist heute bei uns zum Mittag eingeladen. Du hast Gelegenheit genug dazu“, ließ Kora ihn wissen. Ihre Stimme klang heiter, gelassen und ohne jeden Spott.
Hannes ging schweigend quer durch den Wald voraus. Kora und ich trotteten mit unseren Rädern hinterher. Wir hatten Mühe, den wilden Himbeersträuchern, Brennnesseln und dornigem Heckengestrüpp auszuweichen, die sich uns in den Weg stellten auf jenem schmalspurigen Trampelpfad, den er eingeschlagen hatte.
„Konny, die Pilzsammlerinnen sind wieder da“, rief Hannes, und hielt uns galant die Gartenpforte auf.
Die Haustür war nur angelehnt. Tante Selma steckte ihren Kopf hindurch und sagte: „Da seid ihr ja endlich.“ Ich gab ihr die Blumen und bat sie, den welken Strauß in die Vase zu stellen.
„Kora hat mich zum Essen eingeladen“, sagte ich. „Ist Ihnen das Recht?“
„Geht in Ordnung, Katja. Koras Gäste sind mir immer willkommen. Du kannst mich übrigens Tante Selma nennen“, gab sie freundlich zur Antwort.
„Danke, Tante Selma.“ Ich zeigte ihr, dass ich mich darüber freute.
„Oma weiß noch gar nicht Bescheid“, sagte ich. „Sie wartet gewiss schon auf mich.“
„Ich begleite dich, Katja.“ Hannes nahm meinen Arm und zog mich aus dem Haus.
Als wir am See angekommen und außer Sicht- und Hörweite waren, fragte er mich, was mit unseren Fahrradreifen passiert sei.
„Das weiß ich doch nicht, Hannes“, sagte ich. „Irgendjemand hat mit einem Messer hineingestochen.“
„Das muss dieser Maskentyp gewesen sein, Katja. Er will auf keinen Fall, dass wir uns im Lachauer Forst aufhalten“, flüsterte Hannes und sah sich unruhig nach allen Seiten um.
„Wo steckt Helge?“, fragte ich.
„Angeblich wieder auf den Feldern“, sagte Hannes. Wir sahen uns schweigend an.
„Mensch, Katja, wenn ich nur das Motiv wüsste! Aber es will mir einfach nicht in den Kopf, weshalb Helge Knut ermordet haben soll“, sagte Hannes und seufzte tief. „Im Gegenteil, er war Knut immer eine zuverlässige, fleißige Hilfe.“
„Wer sagt das?“, fragte ich.
„Alle“, sagte Hannes leise. „Einfach alle, Katja. „Auf dem Gut, im Dorf, überall ...“ Es hörte sich entmutigend an; aber ich wollte nicht aufgeben.
„Dann muss es im Lachauer Forst eine Bande von Wilderern geben“, stellte ich fest.
„Still“, zischte Hannes mit einem Mal und bohrte seine Finger in meinen Arm. Ich hatte Heiner gar nicht bemerkt. Er saß am Ufer des Sees, vom wuchernden Schilf zur Hälfte verborgen.
„Na Heiner, kleine Mittagspause?“, fragte Hannes.
„Ja,