Wir lebten allein, Sally und ich, nachdem Gordon, Sallys Vater, mit dem ich zum Zeitpunkt dieser Niederschrift zwanzig Jahre verheiratet gewesen wäre, vor drei Jahren an Krebs gestorben war. Meine Mutter wohnte nur fünf Häuser weit von uns entfernt und kümmerte sich um Sally, während ich im Büro war. Später zog sie dann ganz zu uns.
Ich sah mich zur Berufstätigkeit gezwungen, denn meine Witwenrente reichte bei weitem nicht aus, obwohl Gordon als Assistenzarzt gut verdient hatte; aber ich wollte auf gar keinen Fall unser Häuschen mit dem prächtigen Garten aufgeben. Sally fühlte sich darin wohl, und die von Gordon und mir liebevoll eingerichteten Räume erinnerten mich an die schöne Zeit, die wir darin verbracht hatten.
Ich fand eine Stelle als Chefsekretärin in einem namhaften Verlag. Die Arbeit dort brachte mir großen Spaß, obwohl ich selten vor 20:00 Uhr zu Hause war. Sally wähnte ich tagsüber in der Obhut meiner Mutter gut aufgehoben, und sie entwickelte sich zu einem liebenswerten Mädchen, das weder in der Schule noch zu Hause nennenswerte Schwierigkeiten machte.
Ich widmete Sally die Wochenenden, von früh bis spät, und verspürte nicht das geringste Bedürfnis nach einer neuen Beziehung; ich ging ganz in meinem Beruf auf und freute mich auf die freien Tage mit Sally und meiner Mutter, die trotz ihrer fast siebzig Jahre sowohl körperlich als auch geistig voll und ganz auf der Höhe war.
Der Tag, der unser glückliches Leben nicht nur umkrempelte, sondern auch völlig aus der Bahn warf, war nicht zufällig der Todestag unseres Verlagsdirektors Tilmann Friedländer, der im Alter von nur 65 Jahren einen tödlichen Herzinfarkt erlitt, was einige meiner KollegInnen längst hatten kommen sehen und hinter vorgehaltener Hand zu prophezeien pflegten. Friedländer war ein Arbeitstier gewesen, der alles dafür getan hätte, damit sein Verlag, den er wenige Jahre nach dem Krieg gegründet hatte, mit den Online-Medien Schritt halten konnte. Fiona Friedländer, seine Witwe und Erbin des Unternehmens, die jahrelang als Lektorin für den Verlag tätig gewesen war, trug mir die Verlagsleitung an, und ich, gerührt von dem Vertrauen, das die patente Frau in mich setzte, sagte leichten und glücklichen Herzens zu.
Als Sekretärin eines Verlagsdirektors waren mir die Arbeitsabläufe zwar vertraut, das Repräsentieren und der äußerst sensible Umgang mit unseren nicht selten exzentrischen AutorInnen hingegen fiel mir anfangs schwer.
Dazu kam, dass ich fast jedes Wochenende in der Firma zubrachte und keine Zeit mehr fand, mich um Sally und meine Mutter zu kümmern. Zwar registrierte ich im Unterbewusstsein, dass meine Mutter zuweilen einen zerstreuten Eindruck machte, nahm auch zur Kenntnis, dass Sallys Outfit sich sehr zum Nachteil verändert hatte. Sie trug neuerdings Miniröcke, von Stoff konnte kaum noch die Rede sein, allenfalls von einem Fetzen in der Breite eines Schals, kombiniert mit schwarzen Netzstrümpfen und T-Shirts, deren Dekolletés Einblicke bis zum Bauchnabel gewährten, wozu noch nicht einmal großartige Verrenkungen nötig waren. Meine vierzehnjährige Tochter sah nicht nur wie eine Achtzehnjährige, sondern geradezu verboten aus.
Ich nahm dies alles sehr wohl zur Kenntnis, schob die unguten Gedanken, die mich bei Sallys Anblick überfielen, ebenso beiseite wie jene bangen Gefühle, die eine immer häufiger auftretende Verwirrtheit meiner Mutter in mir auslösten. Mich quälte bereits ein schlechtes Gewissen, und ich wurde von bösen Vorahnungen geplagt, als ich in den Flieger nach Manchester stieg, um an einem Seminar für Führungskräfte teilzunehmen.
Meine Mutter war an jenem Morgen nicht zum Frühstück heruntergekommen, obwohl ich sie am Tag zuvor mehrmals darum gebeten hatte. Ich wollte sie mit Instruktionen versorgen, die Sally betrafen.
„Oma schläft jetzt meistens länger. Es ist schon eine Weile her, dass ich mit ihr gefrühstückt habe“, gab Sally mir leichthin zu verstehen, als wir uns am Tag meiner Abreise, einem Dienstag, am Küchentisch gegenüber saßen.
Meine Tochter bot ein groteskes Bild: Sie sah aus wie ein bizarres Wesen von einem fernen Planeten: Ihre Lippen war blutrot geschminkt, die Augen dick mit scharzem Kajal umrandet, und ihr einst so schönes, dunkles Haar war rosa gefärbt und fiel an einer Seite strähnig auf die Schulter herab, während der Kopf auf der anderen Seite fast kahlgeschoren war. So deutlich war mir die Veränderung von Sallys äußerem Erscheinungsbild noch nie ins Bewusstsein gedrungen. Aber selbst unter dieser Maske, mit dieser Antifrisur, war unschwer zu erkennen, wie hübsch sie war. Ihre feinen, sensiblen Gesichtszüge ließen sich nicht wegschminken. Dieser Eindruck, an den ich mich klammerte wie an eine Rettungsboje, wollte mir weismachen, dass Sally im Grunde ihres Herzens immer noch das vernünftige, liebenswerte Wesen von früher sei und ließ mich letztendlich, trotz aller Bedenken, mein Köfferchen zwecks Abreise ergreifen, nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten.
Ich stand neben meinem Wagen und winkte meiner Tochter nach, die sich in einem gewagten Strickminikleid und High Heels („So laufen doch heutzutage alle Mädchen 'rum, Mama!“) auf den Weg in die Schule machte – mit drei gegürteten Büchern und einem Federmäppchen, lässig mit dem rechten Arm schlenkernd, dessen Hand den durch die Schnalle geführten Riemen hielt, wie es Tom Sayer und Huckleberry Finn in den alten Filmen eigen ist, und mir fiel in jenem Augenblick nichts Besseres dazu ein als der Zweifel, ob Huck jemals in die Schule gegangen war und dass ich das unbedingt googeln müsse. Auf den Gedanken, dass Sally die Schule gar schwänzen könne, wäre ich damals im Leben nicht gekommen - obwohl ich immer häufiger den Verdacht hegte, sie könne Geheimnisse vor mir haben, die verhängnisvoller Natur seien.
Während der Fahrt zum Flughafen Tempelhof nahm ich mir vor, gleich bei meiner Ankunft im Hotel meine Mutter anzurufen, um ihr in aller Deutlichkeit einzuschärfen, dass sie während meiner Abwesenheit ein wachsames Auge auf ihre kriegsbemalte Enkelin werfen möge. Noch war mir mein Humor, den ich zugunsten einer gelungenen, liebevollen Erziehung für unverzichtbar hielt, nicht gänzlich abhanden gekommen. Ich bildete mir tatsächlich ein, dass es mir gelänge, zu meiner Mutter vorzudringen, deren Zustand man günstigstenfalls noch mit „geistig abwesend“ bezeichnen konnte.
Fortsetzung erfolgt morgen, am 04.12.2016