5 Lebenssplitter
Zimmerkontrolle:
Meist so gegen 14 Uhr samstags schlug mir das Herz im Hals. Meine Mutter machte ihre Zimmerkontrolle. Ich dümpelte in ihrem Kielwasser, während meine kleine Schwester auf dem Doppelstöcker fleezte und grinsend das Ergebnis abwartete.
Meine Mutter fand immer was zu meckern und sei es, dass die Füße vom Klavier nicht staubgewischt waren. Dieses Klavier war ein altes Barpiano, das über viele Stationen am Ende bei uns gelandet war, weil meine Mutter immer gerne Klavier gespielt hätte, das aber nie gelernt hatte.
Deshalb musste ich es lernen. Der arme Herr Wind gab sich jahrelang Mühe mit mir, ich hätte es selber auch gerne gelernt, aber weil ich es MUSSTE, WOLLTE ich es nicht. Skorpion eben. Das Einzige, das ich heute noch aus dem Stegreif „spielen“ kann, ist die rechte Hand von „Nordisches Lied“, das mich schon damals in seinen Bann schlug – es klang so herrlich melancholisch, Moll war sowieso meine Lieblingstonart. Meine linke Hand kann auch die Begleitung spielen, aber beides zusammen passt immer nicht.
Herr Wind war ein pensionierter Musiklehrer und die Verkörperung von Grau, angefangen von der Nichtfarbe seiner Haare über die Anzugfarbe, die Augenfarbe bis hin zur Haut. Wenn sich unsere Hände beim Üben zufällig berührten, erschrak ich regelmäßig fürchterlich und zuckte zurück, weil seine Haut – für mich unerwartet – warm war. So grau, wie er aussah, erwartete ich mir eigentlich die Kälte des Todes.
Aber er war von einer nie enden wollenden Geduld und Nettigkeit bei all meinen Verweigerungsversuchen. Falls er nur sein Salär im Auge hatte, hat er dies stets sehr gut überspielen können. Viel Zubrot wird er damals nicht gehabt haben, wenn ich an die angebügelte Ausgefranstheit seiner gestärkten falschen Manschetten zurückdenke.
Auch seine schmächtige Frau, die ich wenige Male zu sehen bekam – sie war ebenso zurückhaltend-nett -, wenn ich Ostern und Weihnachten mit kleinen Aufmerksamkeiten zu ihnen geschickt wurde, schien schon mit dem Leben abgeschlossen zu haben, wenn sie mir so resigniert in ihrem lichtschluckenden, erinnerungsverstaubtem Korridor gegenüber stand. Schon der Anflug eines Lächelns erschöpfte sie.
Das Klavier hatte seine vorletzte Station bei meinem Grundschullehrer, Herrn Hopfner, dem quirligen Haudrauf aus Bayern, den ich schon in eine andere Geschichte andeutungsweise hatte einfließen lassen. Es war versehen mit absplitterndem Wurzelfurnier und nahm fast den gesamten Platz ein, den der – ebenso mit Wurzelfurnier versehene - Riesentrumm von Kleiderschrank und der Doppelstöcker von dem kleinen Zimmerchen mit dreieckigem Grundriss übrig ließ.
Gegenüber der Zimmertür war das Fenster in die Spitze des Dreiecks eingelassen und zwischen Klavier und Fenster quetschte sich noch ein alter Beistelltisch an die Wand, der auch für Schularbeiten, Bastel- und Malversuche herhalten musste und immer nur einer Person Platz bot.
Viel aufzuräumen gab es also eigentlich nicht. Dennoch fand meine Mutter immer etwas, von dem ich wusste, ich hatte es weggeräumt, während meine Schwester ihren Logenplatz sichtlich genoss.
Erst, als ich schon längst ausgezogen war von Zuhause, sagte meine Mutter zu meiner Verblüffung einmal verschwörerisch zu mir: „Jetzt weiß ich, dass das Claudia war, das Biest, das alles wieder in Unordnung gebracht hat samstags. Seit du weg bist, ist das Zimmer immer das reine Chaos!“
Späte Genugtuung für eine gequälte Seele.
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