5233 Der Bücherdieb

Bild von Klaus Mattes
Bibliothek

Nie im Leben war ich ein Dieb gewesen. Aber eine Zeitlang habe ich ein wenig gemaust, was mir nicht gehörte. Privateigentum. Bücher. Ich lebte mit sehr wenig Geld. Nicht nur das, sondern schon seit anderthalb Jahren hatte ich alle Monate knapp über die mir erlaubten Verhältnissen hinaus gelebt. Der Zeitpunkt musste kommen, wo die Bank mein Giro sperren würde, das nicht nur überzogen, sondern übers Limit hinaus überzogen war.

Mein erstes Diebesgut, einen ungeheuer großen, dicken und schweren Kunstbildband, hatte ich in Frankfurt, wo ich sonst nie war, vor der Buchhandlung vom Tisch gehoben und weg getragen, obwohl das Stück unhandlich war für den weiteren Tag. Weil es gut gegangen war, kriegte ich diese Idee: Bücher klauen! Nur Bücher, weil Bücher Luxus sind. Man braucht sie nicht wirklich, wenn man bettelarm ist, aber das Haus voller ungelesener Bücher hat. Es ist, was man sich immer noch leisten kann, wie andere Menschen Mode zum Anziehen oder Wasser fürs Verduften.

Idiotischerweise, so primitiv war das, hat eine Geldstrafe den Schlusspunkt meiner Diebeslaufbahn herbeigeführt. Das war bei einem Buchkaufhaus in Stuttgart, nicht im Geschäft, sondern draußen, wo im Sonnenschein einige Wagen auf Schnäppchenjäger lauerten. Bildbände, die man nicht hatte remittieren können, aber weg haben wollte. Zerrissene Schutzumschläge, Preisauszeichnungen auf Seite 3, zwar mit Bleistift, aber riesengroß und fest eingedrückt.

Da war ein Band mit Schwarz-Weiß-Fotografie. „Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal“ von Jürgen Baldiga. Er war an Aids gestorben. Diese Fotos konnten sich unter Schwulen auf gar keinen Fall annehmbar verkaufen, dafür waren sie zu nah am Sterben. (Ich kann mir nicht verkneifen zu erwähnen, dass 25 Jahre später die Online-Kataloge der verbliebenen schwulen Buchläden in Berlin, Stuttgart und Wien den Jürgen Baldiga gar nicht mehr kennen, obwohl seinerzeit eine gute Handvoll Titel von ihm erschienen war. Der von mir entwendete ist momentan bei allen großen Internet-Antiquaren nicht lieferbar, folglich ist der Preis, der an einer Stelle für den letzten Verkauf genannt wird, nicht winzig. Ein Vorwurf soll das nicht sein. Unser Buchhändler kann heute nicht die Bücher einlagern, die in zwanzig Jahren irgendwer ihm wohl mal abkaufen wird.) O, dieses Buch muss ich retten! Weil ich einer von den eher seltenen Menschen bin, für die es gemacht wurde, dachte ich Mitte der neunziger Jahre. Hier in der Wühlkiste wird es so bald kein anderer finden, hier geht es nur vollends zuschanden. Ich hätte dieses Buch gekauft, die acht Mark wäre es mir wert gewesen.

Allerdings hatte ich an jenem Tag vorher schon anderes gekauft. Meine ec-Karte nahm ich sowieso nie mit, um nicht in Versuchung zu geraten. Ich konnte nicht zwischendurch nach Hause und sie holen. Ich war Stuttgart, da wohnte ich nicht. Eine weitere Hin- und Rückfahrt mit der Bahn lohnte das ramponiere und verbilligte Exemplar ebenfalls nicht. Ich hätte es an jedem Tag in meiner heimischen Buchhandlung als neues Exemplar kommen lassen können. Doch war es den regulären Ladenpreis angesichts der Situation, in der ich mich gerade befand, auch nicht wert. Acht Mark Ramschpreis, die war es hingegen wunderbar wert. Nur hatte ich sie nicht.

Ich ging weg von dem Laden, die Fußgängerzone hinauf, das Buch in meinen Einkaufsbeutel versenkend. Ich ging langsam. Da fasste mich von der Seite ein junger Mann an. Jurastudent hätte er sein können. Ich hätte mich losreißen und dem nicht sehr sportlich anmutenden Mann durch die belebte Königstraße entlaufen können. Aber ich war zu unerfahren in meinem neuen Leben als Gesetzesbrecher. Wenn jemand dich gesehen und dich erst noch eine Weile verfolgt hat, ohne dass dir irgendwas aufgefallen ist, so muss man ihm seinen Triumph eben lassen.

Die Folgen waren, dass ich das Buch vor seiner Verschluderung im Mahlstrom nicht retten konnte, vielmehr zu Gunsten des Detektivs eine saftige Fangprämie zu entrichten hatte. Außerdem kam von der Staatsanwaltschaft nach Wochen ein Schreiben, um den Fall im „beschleunigtem Verfahren“ zur Einstellung zu bringen, hätte ich eine Spende über 200 Mark für eine soziale Einrichtung zu überweisen.

Wann und wie ich die „Bearbeitungsgebühr“ für den Hausdetektiv beglichen hatte, weiß ich nicht mehr. Im Abstand von zirka zwei Monaten konnte ich jedenfalls die geforderten 200 Mark für den Verein auch noch vom Girokonto überweisen, muss zu dieser Zeit über dessen rote Zahlen also noch verfügt haben. Gesperrt wurde es irgendwann aber schon auch noch.

Seither habe ich nie wieder irgendwo irgendwas mitlaufen lassen, doch bis da hatte sich eine kleine Serie angehäuft. Erst das Louvre-Buch. Und meinem Vater hatte ich zum Geburtstag einen Bildband über den Thüringer Wald geschenkt, weil er ständig zum Schwarzwald zurück wollte, wo er mal hergekommen war. Wie billig dieses Geschenk war, konnte der Papa nicht ahnen, aber sowieso scheint mir dieses Buch ihn nie von irgendwas überzeugt zu haben.

In der Rückschau tun mir die 200 Mark für den menschenfreundlichen Verein nicht weh, aber die Prämie für den Greifer, der zugeschaut und mir dann nachgegangen war, dem ich ohne Widerwort ins Büro gefolgt bin, obwohl ich, wie ich dachte, hätte ausreißen können, die verwinde ich schwer.