Text 185: Der Schulbuchauftrag

Bild von Klaus Mattes
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Ich habe seit zwei Wochen nichts mehr gemailt, einfach, weil es nicht ging.

Wir haben den Zustand erreicht, den ich bei der Post schon mal erlebt habe. Früh aufstehen (nicht immer, aber zur Zeit um Viertel nach sechs), Arbeit mit Überstunden, halbe Stunde früher anfangen, verkürzte Mittagspause, weil ich morgens vielleicht in Sulzbach bin, wo in den Sommerferien nachmittags dann geschlossen ist, dafür aber geöffnet bis eins, statt sonst halb. In der Mittagspause nach Brettheim reisen, wo es eine Stunde später dann weitergeht. Abends noch eine halbe Stunde drangehängt, weil geputzt werden muss und ihre Putzfrau jetzt Urlaub hat. Deswegen eine Dreiviertelstunde warten, bis ein Zug kommt. Drei Viertel acht wieder daheim, zweieinhalb Stunden später, theoretisch, zu Bett gehen, frage nicht nach dem Schlafmangel. Bei der Post, als ich in Serie so Tage hatte, wo mir zwischen (dort ganz pausenloser) Arbeit und Schlaf nur noch zwei Stunden blieben, war mir dann auch klar, dass ich gehen werde.

Bei der Rot kommt hinzu, dass ihr Ehemann jetzt die neue Stelle hat und samstags Sulzbach nicht mehr machen will. Die oben ausgeführte Sechstagewoche hatte ich schon drei Mal nach meinem Urlaub, also plus fünf Stunden für Samstag immer. Diese Überstunden sollen mit Freizeit ausgeglichen werden. Sie schaute nach dem erstmöglichen Termin, blätterte vor bis zum 19. September. „Ach, da geht’s.“ Um bald danach festzustellen, dass es da doch nicht ginge.

Dazu die Ankündigung, dass Oktober der verwaltungsarbeitsintensivste Monat werde. Neuerscheinungen. Mit jedem Buch, das ins Regal gestellt wird, sind Stücker sieben Verwaltungsvorgänge verbunden. Das kannst du dir nicht im Traum vorstellen. Außerdem beginnt dann ja das Weihnachtsgeschäft, wo angeblich sieben Mal mehr Kunden auftreten als sonst. Nach Weihnachten schließt sich die Inventur an.

Zwischen Samstag (einziger Tag, an dem ich einkaufen und waschen kann) und Montag war letzte Woche noch mein Wandergruppentag. Wieder Aufstehen um sieben, 20 km, Blasen am Fuß, daheim um neun. Wie gut, dass ich den Bedarf nicht mehr habe, Zeitung zu lesen, ins Kino zu rennen, in Kneipen zu hocken, mal nach Karlsruhe zu fahren. Wenn ich es denn wollte, ich könnte es nicht mehr.

Vorige Woche kam ein Großteil von den Schulbüchern, die wir an alle Schulen in der gesamten goldenen Aue ausliefern dürfen. Sie hat das jetzt erst das zweite Mal exklusiv für sich allein. Vorher wurde das gesplittet zwischen mehreren, auch solchen, die im Grunde gar keine Buchhandlungen sind. Das sei ihre wahre Umsatzspitze, noch nicht mal das Weihnachtgeschäft, meinte sie. Die Schaubilder, die sie dabei hochhielt, zeigten es zwar anders. Und der Steller hat schon wieder Urlaub, wieder mal Überstundenabbau.

Zwischen Oktober und Weihnachten hat man nur noch die Sechs-Tage-Wochen und eine Urlaubssperre als Azubi. Missus Rot: „Da brauchen wir nicht drüber reden. Es ist schon klar, die Ausbildung ist im Leben eine harte Zeit.“

Bei dreißig Grad im Schatten hatte ich fünf Paletten Schulbücher auszupacken, vor ihrem Privathaus. Dieselben - über eine kleine Treppe - dann hinauf zu tragen ins rote Haus. Dort war ein Zimmer völlig leer geräumt, auf dessen Holzfußboden ich nach Schulen, Schulfächern, Jahrgangsstufen erst alles sortieren und dabei genau bis aufs einzelne Buch nachzählen musste. Abertausende Exemplare. Ich dabei allein, immerhin war keine Person dabei, die einem misstrauisch über die Schulter schaute. Dann Zettel dran fürs Wiederauffinden.

Sie hatte einen vollen Tag fürs Ganze veranschlagt. Ich brauchte einen und dann noch einen halben. Rot meinte, es müsse alles noch schneller werden. „Letztes Jahr haben ich und der Herr Steller nämlich nicht so lang gebraucht.“ Es rieselte alles vorbei an mir. Sie hätte alles sagen können, es wäre gerieselt. Ich fix und foxi, es ging nichts mehr. Natürlich pflichtete ihr ihr guter Gatte Wolfgang Heerdt sofort bei. Das hätte schon auch schneller gehen können.

Da es sehr heiß war und ich unablässig vor Schweiß tropfte, waren die fliegenden Perlen irgendwann nicht mehr im Griff zu behalten und ich ließ es dann auch mit Aufwischen irgendwann sein. Prompt sind einige Stellen von den Lieferlisten, die ich abzustreichen hatte, nicht mehr lesbar.

Zwei Tonnen Bücher, 2000 Kilo Bücher. Das Gewicht stand auf den Außenhüllen der Paletten. So ein Berg und alle Fehler, die sie finden konnte, bestanden darin, dass es fünf Exemplare zu wenig bei einem Titel waren, woanders zehn zu wenig und von was Drittem glatt sieben zu viel. Frau Rot las meinen Befund und ordnete an, alles zusammen müsse noch einmal vollständig durchgezählt werden. Das nun fiel für Steller ab, dessen Überstundenurlaub auch nicht immer währt. Leider fand der Kollege raus, dass überhaupt nirgendwo was zu viel wäre. Die fünf Stück, die ich für fehlend befunden hatte, wären wirklich nicht geliefert worden. Aber das mit den zehn stimmte nicht. Da hatte ich irgendwas falsch aufgefasst. Außerdem hatte ich von den von mir zusammengestellten und beschrifteten Bücherpäckle zwei zwar richtig beschriftet, dann aber zu den falschen Schulen-Kleinbergen gestellt.

„Nicht nur, dass Sie so lang gebraucht haben, jetzt haben Sie hinterher noch eine Menge Überstunden produziert.“
Rots Sparschweinchen tickte brutal und sie sah wieder mal ganz krank, tief verzweifelt und fast todesnah aus.

Zugegeben, so ein Schulbuchauftrag kommt ja nur einmal pro Jahr. Nächste Woche fahren wir beide, Steller und ich, der ich keinen Führerschein habe, grins, es alles zu den Schulen der Aue hin. Aber wo soll das denn nur hinführen, wenn ich immer so fertig bin und dazu gesagt bekomme, richtig hart werde es erst vor Weihnachten.
„Sie müssen einfach noch schneller werden.“

Die Problematik solcher Kleinunternehmer ist immer wieder dieselbe. Das kenne ich von der Werbeagentur. Sie könnten genauso gut das doppelte Personal einstellen, um ihre Arbeitsspitzen zu bedienen, aber, so sagen sie, es geht gar nicht, auch nur eine einzige Person einzustellen. Das gibt ihre wirtschaftliche Lage nicht her.

Sie lässt mich Überweisungen zur Bank bringen oder Post in den Kasten werfen. Jedoch darf ich das nie beim Postamt tun, auch keine Briefmarken von dort holen. Die Post ist nämlich am Bahnhof, das kostet sie zu viel Geld. Sie muss da an die Minuten Arbeitszeit denken, die ich für diese Wege benötige und die sie bezahlt. Und was lese ich auf meinem Weg zur Bank? Überweisung vom Geschäftskonto aufs Konto Rot, Verwendungszweck: „Reserve“, 37.000 Euro. Man hört ihn schon pochen, den Gerichtsvollzieher an die Tür des schnieken Altstadttraumhauses.

Mir gibt sie 500 Euro pro Monat, 450 Azubigehalt, dann noch ihren Fahrtkostenzuschuss von 50 Euro, weil ich zwischen Brettheim und Sulzbach dienstlich pendeln muss. Wohlgemerkt ist „Reserve“ nicht, was sie als Inhaberin der Buchhandlung regelmäßig abschöpft. Das heißt für sie „Gehalt“. Das wird jeden Monat auf ein besonderes Privatkonto überwiesen. Oder so: „Um ein Drittel habe ich mir das Gehalt dieses Jahr kürzen müssen.“ Ein Drittel von was denn? Obwohl ich so oft so schlecht aufpasse und viel wieder vergessen, weiß ich, wie sie, vergeistigt, gemurmelt hatte: „Nein, das stimmt ja nicht. Nicht Mai und Juni waren es, die so schlecht waren. Die waren besser als vor einem Jahr.“ Und einmal, als sie sich über ihr Wagnis einer Sulzbacher Zweitbuchhandlung ausließ, hatte sie gesagt, die Brettheimer wäre einigermaßen abgesichert. Im letzten Jahr hätte sie den höchsten Umsatz von allen bisherigen erwirtschaftet.

Von all den Menschen, die für Magalie Rot arbeiten, verdient einzig Olaf Steller mehr als ich. Er ist der Lehrling im dritten Lehrjahr. Ihre Putzfrau und die Buchhalterin machen es jeweils nebenher als Hausfrauen - für weniger als 200 Euro. Unsere herzige Monika und unsere dynamische Britta sind beide 340-Euro-Kräfte, Teilzeit-Mini-Jobber. Wegen ihren kleinen Kindern, die sie haben, und den verdienenden Ehemännern.

Du musst, vorsichtig geschätzt, als Einzelner die Arbeit von anderthalb Leuten machen. Ich habe begriffen, dass mein Amt das unendliche und pausenlose Umschichten von Gütern ist, bei welchem Kunden jeweils nur als kurzfristiger, lästiger Eingriff empfunden werden. Kunden laufen nebenher und kosten einen halt Zeit. Frau Rot: „Buchhandel ist ein stressiger Beruf. Ich kann das nicht ändern.“

Es klingt so vertraut nach Oberwerber Wucherpfennig. Hier angefügt, dass nach meinem Ausscheiden von „Relations Advance“ drei weitere noch weggegangen sein sollen. Die unmittelbare Nachfolgerin als Texterin habe nur sechs Monate durchgehalten, also nicht mal die Hälfte von mir. Jetzt wären die Geschäfte so zurückgegangen, dass Vater und Sohn Chef ihre Texte selber bosseln. Eigentlich konnten sie dieses schon vorher ja immer am besten. Dieses Kleinunternehmervolk hat seine Existenz ums jeweilige Geschäft rum gewickelt und denkt, jeder, der ihretwegen stolze 500 Euro einschieben kann, habe seinen persönlichen Gedeih und Verderb darum mit ihrem Seinszweck zu verbandeln.

Weißt du noch, wie es hieß, Rot und Heerdt hätten im Brettheimer Tal diese vielen Freunde? Jetzt sagt sie mir: „Wenn ich eine Unterhaltung außerhalb der Familie zu führen habe, muss ich meinen Laden während den Öffnungszeiten zuschließen, weil ich sonst keine Zeit finde.“ Das müssen dann Freundschaften sein! Es ist uns klar geworden, dass Olaf Steller und ich, ihre Azubis, niemals, nicht eine Minute, einen Dialog über Privates während ihrer Arbeitszeit führen dürfen. Sofort schießt sie herbei, schnappt sich einen von uns, gibt ihm zusätzliche Arbeit auf zu jener, die er sowieso schon hatte. Komplett durch die Wand ist diese Person mit ihrem Jede-Sekunde-effizient-sein-Müssen. Ich weiß gar nicht, wer mit so einem Menschen jemals befreundet sein möchte.

Und dann wieder wuselt Rots Leibfeindin herüber, eine Trulla von der Stadtbibliothek. Sie trifft mich vor dem Eingang draußen, während ich bei den „Wägen“ irgendwas besorge, und eröffnet, was unter Heteros eines gewissen Alters wahrscheinlich Flirten sein wird. Hinter der Scheibe zersplittert ein erzürnter Zwerg im Märchenreich. Mit dieser Feindschaft will ich nichts zu schaffen haben. Also bin ich niemals lieb, wenn süß die Blaustrümpfin rüber raspelt.

Selbst gekündigt habe ich bei der Werbeagentur auch schon und ich konnte am Tag jener Kündigung voraussagen, dass auf diesem Stuhl keiner alt werden wird. Mit solcher Hellsicht sage ich dir jetzt: Die liebliche Frau Rot wird in einer sehr sanften Klappermühl am rauschenden Bache sich erholen dürfen in zirka zehn Jahren.

Interne Verweise

Kommentare

25. Jul 2018

Sehr interessant, Deine Einsicht in eine Buchhändlerlehre ... mir kam sofort in den Sinn: Kein Wunder, das Hermann Hesse seine beizeiten abgebrochen hat.

LG Annelie