85 von 100 %

Bild von René Oberholzer
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Ich hatte jahrelang um Janine geworben, hatte die grössten Entbehrungen auf mich genommen, wie ein Einsiedler gelebt und gehofft, dass wir eines Tages zusammenkommen würden.

Doch nach Jahren schwindender Hoffnung verliebte ich mich in Brigitte, die Schwester meines besten Freundes, die sich schon Jahre zuvor für mich aufbewahrt hatte. Mir hatte das ungeheuren Eindruck gemacht. Brigitte war hübsch und frisch und jung und interessant gewesen. Fast alles, was sich ein Mann wünscht. Eine etwa 85 %-ige Frau, das ist eine hohe Akzeptanzquote, dachte ich, und ich dachte es nicht nur, ich fühlte mich wohl und ziemlich glücklich. Und Brigitte war es auch, für sie war ich der 100 %-ige Mann.

Mit den 15 %, die Brigitte zu den 100 % fehlten, konnte ich gut leben, bis die überraschende Liebeserklärung von Janine ins Haus flatterte. „Ich weiss jetzt“, schrieb sie, „dass du die Liebe meines Lebens bist. Du bist mein Mann.“ Ich wurde richtig durchgeschüttelt, als ich diese Zeilen in ihrem Brief las. Auf einmal wurde mir bewusst, dass ich Brigitte nur zu 85 % liebte und ich Janine schon immer zu 100 % geliebt hatte. Zum Glück war Brigitte gerade nicht zu Hause gewesen.

Die folgenden Tage wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Schliesslich schrieb ich Janine zurück: „Können wir uns treffen und zwar weit weg in Zürich oder Basel, aber bitte schick mir deine Antwort ins Geschäft und schreib deinen Absender nicht aufs Couvert.“ Und während ich diese Zeilen schrieb, wusste ich, dass der Verrat an Brigitte soeben begonnen hatte.

In regelmässigen Abständen traf ich Janine in allen grösseren Schweizer Städten, in denen ich gerade geschäftlich unterwegs war. Dabei wohnte Janine nur vier Strassen weiter weg von mir und Brigitte und unseren zwei Kindern. Wenn wir uns in unserer Kleinstadt über den Weg gingen, grüssten wir uns zwar, taten aber so, als ob wir uns nicht weiter kennen würden.

Ich hätte Brigitte und meine Kinder für Janine nie verlassen. Trotzdem hätte ich auch nie auf die Ausflüge nach Bern oder Basel oder Luzern verzichten wollen. Und als Janine Jahre später unverhofft bei einem Autounfall ums Leben kam, war ich sehr, sehr traurig, so traurig, dass ich noch heute nach Basel, Bern oder Luzern fahre und mich dort in einem Hotelzimmer einschliesse und an Janine denke. Und manchmal denke ich dabei auch an Brigitte, für die ich noch immer der 100 %-ige Mann bin.

© René Oberholzer

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