Seiten
so unsicher!"
"Wer weiß, ob der Nebel nicht seine Vorteile hat!", meint Ricci. "Man sieht so wenigstens nicht, was da draußen vorgeht!"
"Aber eben das wollen wir doch herausfinden!" Dalia schüttelt missmutig den Kopf. "Mir wäre es jedenfalls lieber, wenn ..."
Da hören sie Zeramovs aufgeregte Stimme:
"Vorsicht!", ruft er mehrmals. Sie bleiben abrupt stehen.
"Mais, c'est ... je crois que je rêve ... une rêve …", stammelt Michel und reißt die Augen entsetzt auf.
"Cielo! Sie sind ... fort! Verschwunden! Orror ... l'ora fatale è suonata!", bringt Ricci nur ganz leise hervor.
Tatsächlich ist von Baldwin, Zeramov und dem Krämer nichts mehr zu sehen. Gerade vor ein paar Augenblicken ging der Krämer noch vor Dr. Glücklich - jetzt steht dieser an der Spitze des Zuges und scheint die Führung übernommen zu haben.
"Heh ... wo bleibt ihr denn, zum Teufel noch mal!" Baldwins hysterisches Brüllen erschüttert sie zusätzlich, denn von ihm selbst ist ja nichts zu sehen. Auch klingt seine Stimme von etwas weiter her zu ihnen ... leicht hallend.
"Das ist doch unmöglich!" X steht jetzt neben dem Doktor und starrt ungläubig in den Nebel vor sich hinein.
"Ich treim', ich treim' das alles nur!", murmelt der. "Ich glaub ich bin gonz meschugge!"
Der Signore und Ricci haben ihre Waffen hervorgeholt und stehen zum Angriff bereit – oder zur Verteidigung, je nachdem. Beide haben ihre Pistole im Anschlag.
"Kommt nur!", hören sie jetzt Zeramovs Stimme. "Eine Art Windkanal!"
"Ein 'Windkanal'?", wundert sich X. "Aber es ist doch völlig windstill." Doch schon beim nächsten Schritt vorwärts bemerkt er im Nebel eine wild kreiselnde Bewegung, die er sich nicht erklären kann. "Sieht aus wie eine rotierende Milchglasscheibe!", meint er.
"Kann man da durch, Zeramov?", ruft der Signore, doch er erhält keine Antwort.
"Entweder spukt es hier oder wir sind auf ein physikalisches Phänomen gestoßen!", findet X.
Alle stehen nun vor der Stelle, an der Baldwin, Zeramov und der Krämer verschwunden sein müssen. Keiner will es wagen, der Aufforderung Zeramovs als Erster nachzukommen.
"Na, es hilft ja doch nichts. Wir müssen durch!" Ricci atmet schwer, dann folgt ein kräftiger Nieser.
"Sie haben recht!" X nickt dem Italiener zu. "Wenn Zeramov uns noch was zurufen konnte, dann besteht zumindest keine Gefahr, dass wir da in eine ausweglose Situation hineingeraten. Also ... reichen wir uns am besten die Hände. Wagen wir das Unmögliche!"
"Stimmt eigentlich. Wenn einem was passiert, dann wissen wir wenigstens gleich alle, was los ist."
Michel will auf diese Feststellung Riccis hin noch etwas einwenden. Da wirft ihm der Signore einen Blick zu, der ihn in seinem männlichen Stolz schwer verletzt. Sofort ergreift er Emmas Rechte und Marlènes Linke und erklärt, dass er 'bereit' sei!
"Also los!", ruft der Signore, der ihnen vorangehen will. Marlène bildet das Schlusslicht.
Im nächsten Augenblick, als der Signore in die rotierende Nebelscheibe eintaucht, werden sie alle mit einem Ruck davongerissen.
Sekunden später taumeln sie auf flockigem Boden dahin, ohne selbst die Füße zu bewegen. Es scheint, als trüge sie der Nebel davon.
"Mamma mia, sind wir schon im Himmel?", wimmert Ricci. "War das ... l'ultima avventura ... unser letztes Abenteuer?"
"Gott der Gerechte ... jetzt ist es soweit. Ich hob es immer gewusst. Du verzeihst mir doch meine Sinden von damals, jo? No, ich hob in Paris nur a paar Mädels aus der Not geholfen, wie?"
"Reden Sie keinen Unsinn, Dottore!", faucht ihn der Signore an. "Im Himmel sind wir bestimmt nicht. Da komme ich nicht hin ... nie!"
Über diesen unfreiwilligen Scherz muss X lachen. Er ist als Einziger ruhig geblieben. Dennoch findet er sich nicht zurecht.
Da tauchen in einiger Entfernung Baldwin, Zeramov und der Krämer auf. Sie stehen am Fuß einer gewaltigen Treppe und unterhalten sich. Wie sie die nahenden Kollegen bemerken, winken sie heftig.
"Unglaublich ... was sagt ihr? Verrückt, nicht wahr? Entweder wir träumen einen gemeinsamen Traum und sind gar nicht hier auf der Ebene - oder aber mit uns geschieht etwas ganz Unvorstellbares!" Zeramov hilft währenddessen den Damen vom Nebel herab auf die unterste Stufe der Treppe. Nun stehen sie alle wieder beisammen.
"Diese Treppe ... ich frag' gar nicht erst, woher die kommt!" Michel reibt sich die Augen.
"Die Antwort könnte ihnen sowieso niemand geben, mein Bester!" Baldwin erscheint gefasst und ruhiger denn je zuvor. Eben sind sie aufgebrochen, Rodolphe zu finden, da ist schon Unvorstellbares geschehen. Aber was mag sie noch erwarten?
"Ja, sehen wir einmal nach, wohin diese Treppe führt!", schlägt der Krämer vor.
Zeramov und der Krämer vorne weg, Baldwin, der Signore und Ricci dahinter, in der Mitte die drei Frauen und zum Schluss Michel, Cassius -der eifrig filmt- und X – so steigen sie gemeinsam die Stufen hinauf.
"Weiß der Teufel, was uns da oben erwartet!", brummt Ricci, der kein Ende der Treppe erkennen kann. Irgendwo scheint sich diese zwar zu verjüngen, aber was soll dann kommen? Wieder der Nebel?
"Und wie kommen wir zurück zu unseren Wagen?", will Dalia wissen.
"Wir ersteigen Stufen, die es hier gar nicht geben dürfte, sind zuvor durch eine Art Windkanal geschleudert worden und danach auf Nebelboden dahingetaumelt ... und da fragen Sie noch, wie wir wieder zu den Wagen kommen werden?" Zeramov lacht kurz auf.
"Als ob das jetzt wichtig wäre!" Baldwin schüttelt verständnislos den Kopf. "Ich bin froh, dass wir immerhin schon mal bis hierher gekommen sind. Rodolphe kann nur auf diesem Weg verschwunden sein. Und das heißt ... wir können ihn wiederfinden, wenn wir weiter gehen."
"Wie lange sind wir eigentlich schon unterwegs?", erkundigt sich Ricci nach einer Weile bei seinem Freund, dem Signore.
"Etwa fünf Minuten, Luigi!", erwidert der, nachdem er auf seine Armbanduhr gesehen hat.
"Wie spät ist es?", will Dalia jetzt wissen.
"Halb acht!" Baldwin bleibt stehen. "Aber ... meine ... meine Uhr ist stehengeblieben. Das gibt's doch nicht. Das ist eine Quarzuhr!"
"Gegen sieben Uhr dreißig sind wir noch im Nebel auf der Ebene gewesen!",erinnert sich X. "Eigentlich müsste es jetzt schon viel später sein. Acht Uhr dreißig bis neun Uhr etwa!"
"Seltsam." Baldwin hat seine Uhr abgenommen und schüttelt sie heftig.
Auch die Übrigen stellen fest, dass ihre Uhren um Punkt halb acht stehen geblieben sind.
"No, jetzt hoben wir's! Hier geht keine Uhr!" Dr. Glücklich hat erkannt, was geschehen ist.
"Man könnte auch sagen: Hier haben wir alle Zeit!", bemerkt Zeramov. "Beziehungsweise: keine Zeit!"
"Sehr spitzfindig!" Der Blick des Doktors gefällt dem Drehbuchautor gar nicht. "Kennen se ihre bleden Spriche amal für a Weile weglassen, Herr Zeramov?"
Ricci wirft seine Uhr wütend von sich. Doch zu seinem Entsetzen zerschellt sie nicht auf der Treppe. Sie saust durch diese hindurch und entfernt sich in eine milchige Ungewissheit.
"Monsieur Baldwin ... mir wird schlecht!", erklärt daraufhin Michel.
"Mir auch ... wenn das so weiter geht mit euch Jammerlappen!", faucht ihn Baldwin an. "Und jetzt weiter ... ich kann es nicht ertragen, wenn ihr euch mit unverständlichen Dingen aufhaltet. Ich verstehe das alles ebenso wenig wie ihr! Aber das ist eben so!"
"Weiter!" Ricci hat begriffen, dass es kein Zurück mehr gibt und er folgt dem unermüdlichen Zeramov, der sich bereits ein Stück weit von ihnen entfernt hat.
"Heh, Alexej ... nicht so schnell!", ruft Baldwin seinem Drehbuchautor nach. "Wir kommen nicht mit."
"Umso schneller wir diese Treppe hinter uns haben, desto besser!", antwortet der - ohne sich umzudrehen.
"Er hat recht!", sagt der Signore. "Verzweifeln können wir später immer noch. Jetzt müssen wir erst einmal herausfinden, was mit uns geschieht."
Michel taumelt wie in einem schrecklichen Albtraum dahin - den anderen geht es sicherlich nicht besser als ihm, aber sie bewahren mehr Haltung. Cassius wundert sich zwar, dass er das Surren seiner Kamera nicht hört, aber deshalb lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen. Er will es einfach später noch mal versuchen. Die Kamera am Gurt über der Schulter, die Hände in den Taschen seines Pelzmantels trottet er Kaugummi-kauend hinter X her.
"Hört ihr das auch?" Zeramov ist stehen geblieben.
"Was? - Was sollen wir hören?" Baldwin versteht nicht.
"Die Musik!", antwortet Zeramov. Und wie auch der Signore und Ricci bestätigen, dass von irgendwoher Musik erklingt, erkennt der engste Mitarbeiter Baldwins die Klänge. "Janáček! Ja ... das ist der Beginn von Janáčeks'Sinfonietta'!"
Trompetengeschmetter!
... jetzt hören sie es alle ganz deutlich.
"Stimmt ... ich kenne das auch", sagt X. "Der Komponist war ein Tscheche! Keine überirdischen Klänge also!"
"Dann haben wir wenigstens die Sicherheit, nicht im Himmel gelandet zu sein!", bemerkt Dalia.
"So? Und warum? Nur weil der Komponist einer aus dem Osten war?", empört sich der Signore. "Muss doch nicht immer Bach und Mozart sein. Warum nicht Janáček? ... Ich kann mir auch Verdi gut im Himmel vorstellen."
Da ertönt ein schauerliches Gelächter und alle bleiben abrupt stehen. Kaum dass sie noch atmen ... sicherlich zehn Minuten lang rührt sich keiner von der Stelle.
"Dieses Gelächter kam irgendwie passend", erklärt Zeramov und steigt zu Baldwin hinunter. "Wir sind auf der Suche nach dem Bösen und reden von Himmelsklängen ... so ein Schwachsinn!"
"Und warum kommen Sie runter? - Geht es da oben nicht weiter?", erkundigt sich Baldwin.
"Geben Sie auf?", argwöhnt Michel.
"Wieso das denn? Da oben ist wieder so eine Nebelschneise. Ich möchte nicht alleine hineingeraten!", erwidert Zeramov.
"Nur zu verständlich!" X nickt ihm zu. "Dann werden wir uns diesmal zusammen ins nächste Abenteuer stürzen."
"Wir teilen uns am besten in zwei Gruppen!", schlägt Baldwin vor. "Reicht einander die Hände und seht zu, dass keiner verloren geht!"
Kurz darauf stehen sie wieder vor einer rotierenden Nebelscheibe und diesmal zögern sie nicht lange. Baldwin, Cassius, Zeramov, der Krämer und Dr. Glücklich stehen in einer Linie – die Übrigen bilden die zweite Reihe.
"Ladies first?", scherzt X, der zwischen Ricci und Marlène steht.
"Heute mal nicht!", entscheidet Baldwin. "Wir zuerst! Und sobald wir nicht mehr zu sehen sind, kommt ihr sofort nach! - Klar?"
"Klar!" X nickt.
"Vielleicht können wir euch diesmal nicht rufen ... also nicht lange fackeln!"
"Alles klar, Mr. Baldwin!"
"Dann los!" und Baldwin macht den ersten Schritt.
…