Ich stehe jetzt tatsächlich an der Brücke. Ich habe sie ausgesucht, weil sie viele ausgesucht haben. Eine Selbstmordbrücke.
Unter mir das Wasser, in mir gar nichts. Keine Angst, kein Glück, keine Trauer. Nichts. Völlige Leere. Das Wogen des Wassers sehe ich nur fahl durch die Lichter an der Brücke.
Ich weiß nicht worauf ich warte. Der Moment, wo ich wirklich springe. Vielleicht lasse ich mich einfach fallen.
„Hey“, höre ich hinter mir unter erschrecke mich fast so sehr, dass ich runterfalle.
Scheiße.
„Komm zurück über die Brüstung.“
Ich sehe die Person nur an, sage nichts.
„Okay, so einfach wird das nicht, oder?“
Ich antworte nicht.
„Hör mir nur zu. Ich werd nicht die Polizei, einen Krankenwagen oder so anrufen, hör mir kurz zu, und dann kannst du machen, was du willst.“
Ich mustere ihn. Er ist vielleicht Ende zwanzig und wirkt in der Dunkelheit seltsam, irgendwie komisch. Ich drehe mich komplett um und starre ihn an.
„Ich war auch mal hier. Ich bin sogar gesprungen. Vor fünf Jahren. Genau vor fünf Jahren. Ich komme jedes Jahr her.“
„Wie hast du überlebt?“
„Ich weiß es nicht. Ich bin im Krankenhaus aufgewacht. Ich will dich nicht retten oder so. Mein Leben ist kein Stück besser geworden. Es ist schrecklich, es wird nur immer schlimmer.“
Ich bin verwirrt. Warum sollte er sonst mit mir reden wollen?
Ein Teil von mir sagt mir, dass er scheiße redet, aber ein anderer … seine Stimme. Irgendetwas ist so ernst und echt, dass ich weiß, dass ich ihm zuhören muss.
„Was dann?“, frage ich zögerlich.
„Ich will dich warnen.“
Warnen?
„Wovor?“
„Als ich gesprungen bin, habe ich nicht gesehen, wie mein Leben an mir vorbeizieht und dann gemerkt, dass ich doch nicht will oder so einen Bullshit. Nein ... Als ich aufgeprallt bin, habe ich die ... andere Seite gesehen. Wie eine Vision. Und ... – das .. , Selbstmord .. , ist keine Flucht, das hört nicht auf. Es gibt ein Drüben und … es wird schlimmer. Noch viel schlimmer … Das ist alles, was ich sagen wollte. Ich lass dich jetzt allein.“
Er geht und ich stehe wie angewurzelt da. Ich will nach ihm rufen, aber ich kann nicht. Ich starre ihm hinterher und irgendwann schaffe ich es zurück über die Brüstung und breche zusammen.
Kein Ausweg, kein Ende, keine Hoffnung.
An der Brücke
von Daniel G. Spieker
Prosa in Kategorie:
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Hörbuchversion von An der Brücke
Noch mehr von der Persönlichkeit → Daniel G. Spieker