Es ist Herbst, wir schreiben das Jahr 1948, seit drei Monaten wird die Bevölkerung des Westteils von Berlin aus der Luft versorgt. Im Abstand von wenigen Minuten starten und landen die Frachtflugzeuge der US-amerikanischen Luftwaffe auf dem Flughafen Tempelhof. Im angrenzenden Stadtteil Neukölln macht sich ein kleinwüchsiger, schüchterner Knabe auf den Heimweg von der Schule nach Hause in die Emserstraße 58. In der Hermannstraße steht das Tor zum St. Jakobi Friedhof weit offen und gibt den Blick frei auf ungewohnte Aktivitäten. Fasziniert beobachtet er Fahrzeuge mit großen Kranauslegern, Feuerwehrleitern und Männer mit Tauen und Kettensägen. Irgendwie hat es was mit den Bäumen zu tun, die eine beeindruckende Allee vom Haupttor an der Hermannstraße bis weit in die Anlage hinein bilden. Beängstigend niedrig über den hundertjährigen Linden setzen die Versorgungs-Flugzeuge der Amerikaner zur Landung an.
Er kennt den Friedhof, der direkt an die Rückseiten der Häuser in der Emserstraße grenzt. Noch in den ersten Kriegsjahren trennte nur ein Maschendrahtzaun die Grünanlagen hinter den Häusern von den Gräbern. Inzwischen gibt es diesen Zaun nicht mehr. Eine Luftmine hatte 1944 das Dachgebälk des Hauses Emserstraße 58 auf der gepflegten Rasenfläche abgelegt, die Trümmer des völlig zerstörten Nebenhauses taten ein übriges, und so passen die Schilder „Spielen auf dem Hof und Betreten des Rasens verboten“, nicht mehr so recht in die Umgebung.
Der Friedhof selbst mit seinen Bombentrichtern und herum gewirbelten Grabplatten ist seitdem zum Spielplatz geworden. Probleme mit dem Lärm der spielenden Kinder gibt es aber nicht, denn ohne Unterlaß donnern die Dakotas über die Gräber, die direkt unter der Einflugschneise liegen. Gelegentlich gehen Gerüchte um, die besagen, daß die Rosinenbomber wieder kleine Fallschirme mit Gutscheinen für CARE-Pakete abwerfen. Dann überwindet auch er seine Schüchternheit und tobt über die Grabhügel, hält schließlich inne, wenn sich der kleine Fallschirm in einer Baumkrone oder im offenen Fenster eines Hauses in der gegenüberliegenden Straße verfängt. Die werden sich freuen, denkt er, und eigentlich ist er ganz froh darüber, denn gewiß hätte er es nicht auf einen Kampf mit anderen Kindern ankommen lassen.
Doch jetzt fesseln ihn die Aktionen am Friedhofsausgang, zumal ihm bald klar wird, daß die großen alten Linden gefällt werden sollen. Für ihn als Stadtkind ist das ein ungewohnter, aufregender Vorgang, den er gebannt verfolgt.
Lautes Motorsägengeräusch läßt ihn vermuten, daß es nun ‚zur Sache geht‘. Was dann kommt, damit hat der Vierzehnjährige allerdings nicht gerechnet: Er sieht – und hört – wie ein mächtiger Baum stirbt. Diesen Schrei wird er nicht vergessen. Als er vor fünf Jahren auf dem Bauernhof in Ostpreußen zum erstenmal einen toten Menschen im offenen Sarg sah – zusammen mit vielen anderen Berliner Kindern und ihren Müttern war auch er wegen der Bombenangriffe auf Berlin evakuiert worden – da flüchtete er aus dem Sterbezimmer, in das er unversehens geraten war, nach draußen. Als die Rote Armee an der Grenze stand und der Kanonendonner Tag und Nacht anhielt, ging es zurück nach Berlin. Von da an gehörten Leichen zum Stadtbild.
Und nun, drei Jahre später, erschüttert ihn der Tod eines Baumes. Hatte es vielleicht damit zu tun, daß ihm, dem ängstlichen Großstadtkind ohne gleichaltrige Freunde, ohne jedes Selbstbewußtsein immer nur darauf bedacht, auf der Straße und in der Schule nicht aufzufallen, Erfolgserlebnisse versagt blieben? Seine Gesprächspartner in diesen lausigen Zeiten waren die beiden Tomatenpflanzen zwischen dem Dachgebälk hinter dem Haus in der Emserstraße. Und die Bäume. Mit ihnen konnte er reden. Die Tomaten dankten es ihm mit herrlichen Früchten, um die er beneidet wurde. Die Bäume waren so ganz anders als er. Er bewunderte sie.
Einundsechzig Jahre später trägt es sich zu, daß ein Pkw mit Anhänger in ein kleines Dorf im südlichen Frankreich einbiegt und vor einem schmalen alten Haus anhält. Der Fahrer, ein Mann aus dem Dorf, steigt aus und entlädt einen etwa zweieinhalb Meter langen Baumstamm, den er zufällig am Mittelmeerstrand entdeckt hat.
„Ich habe da ein Stück Holz für Sie, das können Sie sicher verwenden, nicht wahr? Sie machen doch so schöne Sachen. Ich bringe es mal vorbei,“ hatte er Tage vorher das Teil angekündigt.
Der Angesprochene, der, vor fünfundsiebzig Jahren in Berlin-Neukölln geboren, in diesem Dorf seit Jahren lebt, hatte die Ankündigung eigentlich nicht so ganz ernst genommen Doch nun, da er von einem Ausflug nach Hause kommt, sieht er das Teil – und ist fasziniert. Offenbar war der Blitz in den Stamm geschlagen und hatte ihn aufgespaltet. Jahre lang muß er in einem Fluß gelegen haben, bis er schließlich ins Meer geschwemmt wurde und dann am Strand landete.
Wie ein riesiges aufgerissenes Maul, denkt er. Und dann: „Ich mache ihn wieder lebendig!“ Das ist erst einmal nur eine reizvolle Idee. Aber da ist noch etwas: Der Schrei, er hat ihn noch immer im Ohr. ‚Ich mache ihn wieder lebendig‘, das hat auf einmal eine ganz andere Bedeutung für ihn. Natürlich kann er ihn nicht wieder einpflanzen, wie er es mit den Aprikosenbaum-Schößlingen macht, die aus einem achtlos in die Gegend gespuckten Kern sprießen. Nein, aber er wird ihm zu einem zweiten Leben verhelfen.
Das erreicht er mit vier Zähnen, die einmal einem Wildschwein gehört haben. Vor Jahren hatte ein anderer Nachbar mehrere komplette Gebisse beim Aufräumen in seinem Keller gefunden: „Das können Sie doch sicher gebrauchen, nicht wahr?“
Fachgerecht implantiert er die Zähne, macht den Stamm wetterfest und verankert ihn gegenüber der eigenen Haustür. Hier öffnet sich ein kleiner Pfad, der in den Talkessel führt, an den sich das Dorf schmiegt. Bei den üblichen starken Regenfällen verwandelt sich der Weg stets in einen Wildbach, dann steht die Flutwelle bis zu einem halben Meter hoch an der Haustür.
Wird ein toter Baum wieder lebendig, wenn man ihm vier Zähne einsetzt? Wohl kaum. Aber wenn sich ein Geschichtenerzähler seiner annimmt, dann ist das etwas anderes.
„Dieser Baum hat sein Leben in der Natur in Würde beendet.
Nun, in seinem zweiten Leben als Skulptur im Cirque de Mourèze, verwandelt er sich in „Kaa“, die Schlange aus dem „Dschungelbuch“ von Rudyard Kipling.“
Das steht da in Französisch, eingeschweißt in Folie und auf eine Kalksteinplatte geklebt. Täglich kommen Besucher, lesen und streichen der Schlange ‚Kaa‘ zart über den Kopf, denn sie lebt – und vor vielen, vielen Jahren war sie einmal Baum.
Der Weg, der nun von Kaa bewacht wird, hat übrigens auch einen Namen: Le petit chemin de la poésie – Der kleine Gedichteweg.
Dieser Pfad mit seinen Gedichten, Parabeln und Gleichnissen, eingebettet in die Garrigue, das dichte Unterholz des Cirque de Mourèze, findet Jahr für Jahr tausend und mehr Leser – und Zuhörer. So mancher Rezitator ist darunter, Kinder lesen die Texte stolz ihren Eltern und kleineren Geschwistern vor. Franzosen übersetzen sie für ihre ausländischen Gäste. Der Autor aber lauscht, dankbar einem Schicksal, das ihm die Chance gibt, abseits literarischer Spektakel und Eitelkeiten ein Publikum zu finden, das dem, was er mit seinem Herzblut geschrieben hat, mit offenem Herzen begegnet.