Das alte Schloss

Bild von Anita Zöhrer
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Niemand außer mir will es haben – das jahrhundertalte, winzige Schloss nicht weit von der Autobahn entfernt. Die Fenster sind kaputt. Das Dach ist kurz vor dem Einsturz und von den Gemäuern hat sich der Verputz gelöst. Die Räume sind verstaubt und Insekten ihre noch einzigen Bewohner.

Jedes Mal, wenn ich an dem Gebäude vorbeikomme, bleibe ich stehen und betrachte es mir. Ich würde es gerne erwerben, aber mir fehlt das Geld dazu. Obwohl es andere nicht einmal als Geschenk nehmen würden, verlangt der Besitzer einen Wucherpreis dafür.

Doch was beschwere ich mich? Ich habe zumindest eine Wohnung, ein Dach über den Kopf – im Gegensatz zu meinem Freund. Aus freien Stücken hat er sich dazu entschieden, der Welt des
Profits den Rücken zu kehren und sein Leben in Bescheidenheit auf der Straße zu verbringen.

Stolz auf seine Freiheit, zu tun und lassen, wonach im gerade ist, lebt er in den Augen der meisten als ein Versager. Er selbst kann darüber nur lachen. Neidisch sind alle seine Kritiker auf ihn, davon ist er überzeugt. Eifersüchtig auf sein Glück, nichts zu besitzen und dennoch zufriedener zu sein als alle, die Gott und die Welt erobert zu haben, glauben.

Der Frühling hat begonnen, die ersten Blumen blühen auf. Es ist mein Geburtstag, als mein Freund mir eine Augenbinde anlegt und mich an der Hand von seinem Zuhause wegführt. Er hat eine besondere Überraschung für mich, vor dem alten, kleinen Schloss finde ich mich wieder. Der Besitzer ist im vergangenen Winter gestorben. Keiner hat jemals in Erfahrung bringen können, wer es von ihm geerbt hat.

„Es gehört dir.“
„Du veralberst mich.“
Mein Freund grinst und schüttelt seinen Kopf. Natürlich lasse ich mich von ihm nicht auf den Arm nehmen. Das Schloss soll wirklich mir gehören? Nicht einmal in meinen Träumen kann ich mir dieses Wunder vorstellen.

Doch es ist wahr. Als Beweis reicht mir mein Freund eine Kopie der Besitzurkunde des Gebäudes. Ich traue meinen Ohren kaum, als er mir verrät, der verstorbene Besitzer sei sein Onkel gewesen. Sehr nahe sind sie sich ihr Leben lang gestanden, weshalb sein Onkel für ihn die ganze Zeit über sein Hab und Gut verkaufen hat wollen. Weil dies ihm jedoch nicht gelungen ist, hat er es ihm vermacht. Ich bekomme weiche Knie. Mein Freund muss mich stützen, damit ich nicht zu Boden falle. Wer hätte das gedacht, dass ich das Schloss eines Tages ernsthaft kostenlos erhalten würde. Und das von einem Mann ohne jeglichen materiellen Reichtum.

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