Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

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von Alf Glocker

89. Schritt

„Die Ausdehnung des Raumes ist sekundär – lasst uns die Illusionsgleiter besteigen“, ruft der 1. Offizier der Flotte in unsere Reihen und wir warten gespannt.

Eine Stimme in mir ist skeptisch. „haben wir denn nichts anderes, was wir besteigen könnten?“ meint sie, im Hinblick auf vergangene Jahrtausende, als man auch gerne glitt und bestieg. Doch damals fanden die Ereignisse noch in einer unbestreitbaren Realität statt.

Das Mittel beginnt zu wirken! Diese Einsicht fährt mir in alle Knochen. Ich fröstle. Daß Hormone so stark sind hätte ich nicht gedacht. Der Cocktail ist enorm. „Er“ beginnt sich zu freuen: mein Mensch ist guter Dinge. Mit ihm fahre ich durch die Zeit.

„Dreh die Welt dir vor den Augen und du stehst im größten Glück!“ Dieser Singsang im Ohr ist der Treibstoff für meine Jahre, die ich vorhabe, vor mir habe, vor mir haben möchte, da ich nichts von ihnen weiß! Aber noch funktioniert ja mein Körper.

Natürlich, es bereitet mir Schwierigkeiten ihn als mich anzuerkennen, aber was habe ich für eine Wahl?! Im Spiegel ist ja nur der zu sehen. Wie ich wirklich aussehe hätte ich selbstredend auch gerne gewusst, aber vielleicht sehe ich ja überhaupt nicht aus – o der es gibt kein „Wirklich“.

Das reduziert mich dann wieder auf den Augenblick, die einzig gültige Gegenwart und ich muss, darf diesen Hormoncocktail schlucken der mich am Leben hält. Immerhin habe ich auf diese Weise endlich kapiert was Leben überhaupt ist: eine Menge von Drogenabhängigen in einer augenblicksdominierten Gegenwart!

Der Bezugsort für Spielchen dieser Art ist das Holodeck, auf dem mein Avatar sich vor mir (soweit vorhanden) verbergen kann, indem er Empfindungen, optische und akustische Reize an „mich“ weitergibt, um ein „realitätsbezogenes“ Denken hervorzurufen, das mich glauben lässt, hier gäbe es etwas zu bewirken.

Doch auch so entsteht nicht unbedingt ein verständlicher Sinn. Man könnte jetzt nämlich sagen: „Den Avatar gibt es, weil ich ihn im Spiegel sehe!“ Oder auch: „Mich müsste es geben, weil ich sonst gar keinen Avatar wahrnehmen könnte!“ Das kann aber auch alles zusammen falsch sein! „Ich“ könnte ja plötzlich aus dem Nichts entstanden sein und einmal auch wieder dorthin zurückfinden. Daraus resultierte dann wiederum die Frage: „Was ist das Nichts?“

Wenn es ein Ort ohne Umfang und Mittelpunkt ist, einer, an dem also keine Zeit vorkommt, da Zeit und Raum eindeutig voneinander abhängig sind, dann drängen sich ebenfalls Zweifel an der ganzen „Sache“ auf. Denn wenn es so etwas gibt, dann muss es genug Energie besitzen etwas wie mich / uns hervorzubringen, was wiederum den Schluss nahelegt, daß der Begriff „Nichts“ nur von uns aus gesehen so definiert werden darf.

Aber ich sehe schon – ich hyperventiliere! Je länger ich mich damit befasse, desto wilder schlägt mein Herz. Deshalb beschließe ich schleunigst abzuschalten…und jetzt höre ich auch die Stimme des 1. Offiziers der Flotte wieder: „Die Ausdehnung des Raumes ist sekundär, lasst uns die Illusionsgleiter besteigen“

Ein neuer Cocktail wird gereicht. Ich denke an die vergangenen Jahrtausende und versuche zu gleiten und zu besteigen, wo es nur geht, denn meine Ereignisse finden wieder in der unbestreitbaren Realität statt!

©Alf Glocker

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