Der Brief

Bild von Hans-Jörg Große
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Mit einem Lächeln verschloss er das Kuvert. Die Adresse kannte er auswendig. Es gab Zeiten, in denen er häufig Briefe schrieb. Inzwischen griff er selten zum Stift. Obwohl er sich lange dagegen gesträubt hatte, war auch er irgendwann dazu übergegangen, statt die Feder zu schwingen in die Tasten seines Computers zu hämmern. Kein Wunder, dass er nicht mal eine Briefmarke im Haus hatte. Noch blieb ihm genug Zeit, den Brief zur Post zu bringen.
Jahrelang hatte er es vor sich hergeschoben, nun konnte es ihm nicht schnell genug gehen.

Ob es möglich war, das Verlorene zurück zu holen?
Er wusste nicht mehr, was eigentlich der Grund des Zerwürfnisses gewesen war, vielleicht wollte er es auch gar nicht mehr wissen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie sich gestritten hatten. Mehr als eine Verstimmung, die freilich ein paar Tage andauern konnte, war nie daraus entstanden. Selbst der heftigste Streit ließ nie einen Zweifel an kommender Versöhnung aufkommen. Er erinnerte sich, dass ihre letzte Begegnung zwar Differenzen offenbarte, diese aber ungewohnt leise ausgetragen wurden. Das Leise mündete in einem Schweigen, dem ein stummer Abschied folgte.

Als er aus der Tür trat, fröstelte er. Die Sonne, die ihn beim Schreiben durch die Fensterscheibe geblendet hatte, spendete weniger Wärme, als er erwartet hatte. Kurz erwog er umzukehren, um sich eine wärmere Jacke anzuziehen, ging dann aber doch weiter. Jeder Schritt zurück könnte jetzt einen Rückzieher zur Folge haben. Entschlossen überquerte er die Straße.

Hatte er damals geahnt, dass es nicht nur ein Abschied, sondern eine Trennung war? Vielleicht. Nur wollte er es ganz sicher nicht wahr haben. Die traurige Leere aber, die ihn in jenen Tagen überkam, konnte er nie wieder ausfüllen. Natürlich, das Leben ging weiter, der Alltag stellte seine Forderungen und sorgte mehr oder weniger für Ablenkung. Und außerdem war da noch immer die Hoffnung auf Versöhnung, auf ein Weglachen der Entfremdung.

Die S-Bahn setzte sich in Bewegung. Drei Stationen nur. Länger musste er die mürrischen Blicke nicht ertragen, die ihm sein zufälliges Gegenüber zuwarf, während es unfreundliche Worte in sein Handy bellte.

Wie viele Tage, Wochen, Monate mochten es gewesen sein, bis er die Hoffnung aufgegeben hatte?
Wie lange noch hatte er sich versöhnliche Worte überlegt, die er beim zu erwartenden Anruf zu sagen gewillt war?
Wie oft öffnete er mit klopfendem Herzen sein Mailkonto oder, besonders am Geburtstag, seinen Briefkasten?

Die Post lag nur wenige Meter vom S-Bahnhof entfernt. Es waren nicht viele Kunden, die vor ihm standen, aber doch so viele, dass ihm genug Zeit blieb, unsicher zu werden und mit der Versuchung zu kämpfen, den Brief wieder in seinen Rucksack zu verbannen oder gleich zu zerreißen und in den nächsten Papierkorb zu werfen. Doch ehe er diesem Impuls nachgeben konnte, fand er sich ohne Brief und erleichtert auf der Straße wieder.

Kein Anruf, keine Mail und auch keine Karte zum Geburtstag. Nun, zwei Geburtstage, um genau zu sein. Kein Kontakt seit zwei Jahren, vier Monaten und acht Tagen, um noch genauer zu sein.
Natürlich hätte auch er den ersten Schritt machen können. Machen müssen? Eine Antwort auf die ungestellte Frage, warum er es unterlassen hatte, wusste er nicht. Anfangs rang er täglich mit sich und hielt ungezählte Male den Telefonhörer in der Hand, legte dann aber auf, ohne eine Nummer gewählt zu haben.

Zwei Jahre, vier Monate und vierzehn Tage.
In den vergangenen sechs Tagen war es wieder da, dieses Herzklopfen beim Läuten des Telefons, beim Öffnen des Mailkontos, beim Gang zum Briefkasten. Dass es bereits am Abend des Tages, an dem er den Brief abgeschickt hatte, so war, hatte nichts mit Logik zu tun.
Seine Hoffnung auf eine Antwort war genauso groß wie seine Unsicherheit. Konnten sie wieder anknüpfen an das, was sie so lange miteinander verbunden hatte? Wog das Trennende wirklich so schwer, oder hatte es nach all der Zeit an Gewicht verloren? Wurde auch er so sehr vermisst, wie er vermisste?

Gedankenvoll und in banger Erwartung öffnete er an diesem Morgen seinen Briefkasten. Und dann hielt er den Brief in Händen. Seinen Brief.

Die Worte waren mit zu wenig Farbe auf den Briefumschlag gestempelt worden, aber doch deutlich lesbar:

EMPFÄNGER VERSTORBEN

© Hans-Jörg Große

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