Der Büstenhalter

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von René Oberholzer

In unserer Familie haben alle ein eigenes Zimmer. In unserer Familie haben alle eine eigene Putzfrau. Für die gemeinsamen Räume haben wir zusätzliche Putzfrauen. Die Putzfrau meiner Schwester Judith kommt von 8-9 Uhr, die Putzfrau meines Bruders Anton kommt von 9-10 Uhr, die Putzfrau meiner zweiten Schwester Birgit kommt von 10-11 Uhr, die Putzfrau meines Vaters kommt von 11-12 Uhr und die Putzfrau meiner Mutter von 14-15 Uhr. Insgesamt gehen in unserem Haus jeden Tag 10 Putzfrauen ein und aus. Ruhig ist es in unserem Haus erst ab 18 Uhr. Dann nehmen wir gemeinsam das Abendessen ein. Meistens sprechen wir über die Sauberkeit in unseren Zimmern, manchmal über die Putzfrauen.

An einen Tag erinnere ich mich noch genau. Es muss kurz vor Weihnachten gewesen sein, als die Putzfrau, die von 11-12 Uhr das Zimmer meines Vaters putzt, mit einem Büstenhalter in der Hand zum Stubentisch schritt und ihn dort über einen Stuhl legte. Als unsere Mutter um 12 Uhr nach Hause kam, sah sie den Büstenhalter, der weder ihr noch meinen beiden Schwestern gehörte. Am Abendessen stellte meine Mutter meinen Vater am Stubentisch zur Rede. "Wem gehört dieser Büstenhalter?", wollte sie wissen. Mein Vater schwieg. Auch dann noch, als meine Mutter die Koffer packte und uns alle verliess.

Seither steht das Zimmer unserer Mutter leer, doch ihre Putzfrau kommt noch immer von 14-15 Uhr. Wem der Büstenhalter, der sich noch immer über dem Stuhl vor dem Stubentisch befindet, gehört, darüber spekulieren wird noch immer. Ich für meinen Teil glaube, dass der Vater ihn selbst gekauft und unters Bett gelegt hat.

© René Oberholzer

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