Der Fremde

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von Anita Zöhrer

Nur noch wenige Tage gaben die Ärzte mir zu leben. Gerne hätte ich sie irgendwo in der Natur verbracht, doch ich durfte nicht. Wegen meiner ansteckenden Krankheit musste ich in Isolation im Krankenhaus bleiben. Ich hätte den Verstand verloren, hätte mich nicht regelmäßig ein Mann besucht, der sich als Einziger nicht davor scheute, sich mir ohne Schutzbekleidung zu nähern …

Nie hätte ich es für möglich gehalten, einmal so zu enden. Statt des Gesangs der Vögel nur mehr das Pumpen der Maschinen, an denen ich hing. Medikamente, die meine Schmerzen nicht linderten, sondern das Unvermeidliche nur unnötig hinauszögerten. Sofort hätte ich jegliche weitere Behandlung abgelehnt, hätte ich die Kraft dazu gehabt. Wenn ich sowieso sterben musste, wieso konnte ich es nicht auf eine würdigere Art und Weise tun? So, wie ich es mir gewünscht hätte? Warum bemühte sich das Personal überhaupt noch um mich, wo andere es bestimmt weit dringender brauchten als ich?

Das Schönste an den Tagen war für mich, wenn sie vorüber waren. Wenn das Licht der Dunkelheit wich, wich mit ihm auch meine Einsamkeit. Keiner von meinen Freunden kam mich jemals besuchen oder hinterließ mir eine Nachricht. Was ich falsch gemacht hatte, wusste ich nicht. Konnte es nicht verstehen, warum sie mich nun im Stich ließen, wo ich sie so sehr gebraucht hätte. An ihrer statt verweilte jedoch jede Nacht ein fremder Mann an meiner Seite. Plötzlich saß er stets neben meinem Bett. Bei keinem seiner Besuche bemerkte ich ihn ins Zimmer kommen. Nie trug er einen Mundschutz oder Handschuhe. Anfangs hielt ich ihn einfach bloß für verrückt, dennoch fühlte ich mich vom ersten Moment an wohl in seiner Gegenwart. Oft nahm er mich an der Hand und strich mir übers Haar, sprach kaum ein Wort und sagte doch so viel.
Nie verspürte ich Schmerzen, wenn der Mann bei mir war. Jedes Mal schlief ich friedlich ein, wenn er mich sanft auf die Stirn küsste. In meinen Träumen führte er mich zu blühenden Bäumen, zu Wiesen voller bunter Blumen. Zu Seen mit kristallklarem Wasser und zu Bergen, auf deren Spitzen der Schnee glitzerte. Ich suchte seine Nähe, mochte es, wenn wir uns umarmten. Er war der Einzige in dieser schrecklichen Zeit, der für mich da war, sich nicht nur um das Wohl meines Körpers sorgte. Er war ein Fremder und trotzdem schenkte er meiner Seele Trost.

Die letzten Sonnenstrahlen verblassten. Unerträglich wurden meine Schmerzen. Umso mehr erwartete ich jenen Tag mit Freude, mit dem sich auch mein Leben dem Ende zuneigte. Ich war bereit.

Noch ein letztes Mal erinnerte ich mich an mein Leben zurück. An all die Dinge, die mir geglückt waren. An all die Fehler, die ich begangen hatte. Dachte an den fremden Mann, bevor ein helles Licht in meinem Zimmer erschien. Ich lächelte. Nun war ich endlich frei. Frei von all dem, was mich an Irdischem bedrückte. War gespannt, wer oder was wohl auf mich zukommen würde, als ein mir bekannter Mann aus dem Glanz hervortrat. Ich traute meinen Augen kaum: Es war der Fremde.
„Wer bist du?“
„Ich bin der Tod.“
Ich musste lachen und konnte nicht mehr aufhören. Er sollte der Tod sein? Wenn, dann war er ein Engel, aber der Tod? Er, ein Mann mit so viel Liebe im Herzen? Er, der mir durch seine Zuwendung so viel Wärme und Geborgenheit geschenkt hatte? Meine Last hatte er mir abgenommen. Und er wollte der Tod sein? Ich glaubte ihm nicht, aber es stimmte.

Eine laue Brise wehte uns entgegen und ein Regenbogen zierte den Himmel. Der Mann legte seinen Arm um mich. Ich lehnte mich an ihn und verlor mich im Anblick der Berge und Wiesen. Stolz erfüllte mich. Alle meine Freunde auf Erden hatten mich verlassen. Einen ganz besonderen hatte ich dafür gefunden.

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