Die Liliputanerin
Erzählung von
Hans Werner
Schon seit mehreren Wochen ging Johannes, Stud.phil. im ersten Semester, jeden Morgen die Steinlachallee entlang, die Aktentasche unterm Arm, und schaute zu dem sanften Bergrücken empor, der sich länglich über dem Neckar hinzog, dem Österberg, auf dem sich die prächtigen Villen der Verbindungshäuser aneinander reihten und vom Stolz ihrer akademischen Inhaber kündeten. Auf der anderen Seite, flussaufwärts, erkannte man schon den massiven Turm der Stiftskirche, und im Anschluss daran den mächtigen Koloss der Burg Hohentübingen, die trotzig über der Altstadt thronte. Johannes war ein fleißiger und gewissenhafter Student. Nie versäumte er seine erste Vorlesung am Tag, die schon um acht Uhr, einer für Studenten strengen Zeit, in der Neuen Aula stattfand. Sie handelte von französischer Literatur und Linguistik, und das Auditorium Maximum war stets bis auf den letzten Platz besetzt.
Johannes stammte aus einfacher Familie, sein Vater war vor wenigen Jahren an späten Kriegsfolgen verstorben, ein stiller, in sich gekehrter Mensch, der seiner Familie mit Sanftmut vorstand und in allen wichtigen Entscheidungsfragen das Heft seiner Frau überließ, die als fromme und gewissenhafte Mutter ihre Kinder nach überlieferten Moralvorstellungen streng erzog, manchmal auch mit dem Kochlöffel, wenn sie es für nötig hielt.
Als sich Johannes von seiner Mutter verabschiedete, damals beim Umzug ins Tübinger Studentenwohnheim, stand sie an der Haustür, und ihre Augen wässerten gewaltig. Denn sie war eine gefühlvolle Frau und der Abschied ihres geliebten Sohnes griff ihr mächtig ans Herz. Aber auch Johannes musste ein Würgen im Hals unterdrücken, denn er spürte schon damals eine unbezwingliche Sehnsucht nach Mutters wohlschmeckenden Spätzle und dem nahrhaften Braten, den sie, ohne an Kalorien zu denken, mit kräftigem Schweineschmalz zubereitete. Im übrigen warnte sie ihn eindringlich vor allzu leichtfertigem Kontakt mit dem anderen Geschlecht, denn sie wolle, wie sie sich ausdrückte, unter keinen Umständen Großmutter werden, bevor eine ordentliche Heirat eine solche Fortpflanzung vor Gott und der Gesellschaft abgesegnet haben würde. Und so empfand Johannes auch damals schon eine ordentliche Scheu vor weiblicher Nähe, während sich in ihm seine menschlichen Naturtriebe doch gesund und kräftig entwickelten. Wenn er in der Aula saß, im Auditorium, dann betrachtete er zuweilen sehnsüchtig manchen weiblichen Hinterkopf, den eine blonde Mähne verhängte und von dem nicht selten, wie damals Mode, ein kräftiger Pferdeschwanz hin und her baumelte. Von der Seite erkannte er hierbei manches sensible Mädchenprofil, manche zarten rosafarbenen Wangen, auf die sein eigener Mund ganz gut draufgepasst hätte. Und zuweilen sah er auch leicht aufgeworfene Lippen, die wohl zu einem vollen Schmollmund gehörten, der ebenfalls als Landeplatz fliegender Lippen gut geeignet gewesen wäre. Das alles sah Johannes und spürte dabei sein Blut wogen und wallen. Doch eines dieser Mädchen anzusprechen oder gar auf ein Treffen einzuladen, dazu fehlte es ihm an der nötigen Übung und an der Courage. Seine Meisterschaft bestand lediglich darin, diese begehrenswerten Geschöpfe von hinten und von der Seite zu betrachten. Vielleicht hätte ihn ein beherzter Ratschlag eines älteren Kommilitonen aufrütteln und ihm den Sprung zur eigenen Tat erleichtern können. Aber so weit ging, jedenfalls in den ersten Wochen seines Studiums, sein Vertrauen zu keinem seiner Mitstudenten. Und Johannes blieb daher allein und litt ein wenig unter seiner Einsamkeit. Übers Wochenende fuhr er meist mit der Eisenbahn durch das Neckartal nach Hause und tat sich an Mutters Tisch mit dampfenden Spätzle und Braten gütlich.
Eines schönen Tages hatte Johannes ein Erlebnis, das ihm beinah eine erste, wenn vielleicht auch nur vorläufige Bekanntschaft beschert hätte. Die katholische Hochschulgemeinde veranstaltete einen Tanz- oder Begegnungsabend für die Erstsemestrigen, zu dem sich auch Johannes einfand. In dem saalartigen Tagungsraum des Studentinnenwohnheims herrschte bereits dichtes Gedränge. Viel akademisches Volk hatte sich versammelt und der Studentenpfarrer, ein agiler wortgewandter Herr in schwarzer Priesterkleidung, hielt seine Eröffnungsansprache. Danach suchte man sich ein Plätzchen und hielt nach Gesprächspartnern oder -partnerinnen Ausschau. Die gelehrte Unterhaltung, so wie sie in akademischen Kreisen üblich war, bot für diese Gespräche den passenden unverbindlichen Rahmen. Die geheime Verlockung einer weiterreichenden Beziehungsanbahnung glomm dabei verheißungsvoll auf. Auch Johannes kam an einen Tisch und sah sich einer jungen Studentin gegenüber, die ein überaus reizendes Gesicht hatte und mit ihren deutlich blickenden Augen ihre Umwelt lebenslustig musterte.
„Hallo, ich heiße Roswitha, und du?“
„Ich bin der Johannes. – Angenehm.“
„Bist du neu hier?“
„So neu, wie wohl die meisten, die hier sind“, sagte Johannes, ein wenig bestürzt über die zudringliche Fragerei des Mädchens.
„Auch ich bin Anfängerin. Ich studiere Anglistik und Geschichte.“
„Ach, wohl auf Lehramt?“
„Ja, auf Lehramt. Und du?“
„Germanistik und Romanistik, auch auf Lehramt.“
Inzwischen hatte sich dem Gespräch ein etwas belustigter Unterton beigemischt, den das heimliche Lachen der Gesprächspartnerin Roswitha wie auch der etwas hölzerne Gang der Fragen bewirkt haben mochten. Johannes begann nun, das Gespräch systematisch auszudehnen und redete über eigene Schulerfahrungen, die ja, wie bei Roswitha, noch nicht weit zurücklagen. Voll feuriger Begeisterung schilderte er seine Leidenschaft für den lehrenden Beruf und auch Roswitha pflichtete ihm lebhaft bei und beteuerte, auch sie würde sich mit jeder Faser ihres Herzens auf das Lehramt freuen. Denn der Umgang mit jungen Menschen, dieser Ansicht waren sie beide, sei ein großes Glück und so etwas wie eine Lebensversicherung dafür, dass das eigene Herz und Gemüt immerdar jung bleiben müsste.
Nun war bei Johannes vollends der Bann gebrochen. Er fühlte, dass er hier eine verwandte Seele getroffen hätte, und wohlgefällig ruhte sein Blick auf dem angenehmen und reizenden Mädchengesicht Roswithas, dessen glänzende dunkelbraune Haare ihr die Stirn weich umgaben. Er bemerkte, wie sich in den Augen des Mädchens ein feuchter Schimmer zeigte, und deutete diesen feuchten Schimmer als einen Beweis ihrer emotionalen Teilnahme. Sollte ich etwa, fragte er sich, auf Roswitha einen positiven Eindruck gemacht haben? Wäre ein Werben um Freundschaft bei ihr erfolgversprechend? Könnte ich sie fragen, ob sie mit mir ausgehen würde? Wäre es wohl möglich, dass das Glück, diesen jungen warmen Mädchenkörper in Armen zu halten, mir schon aus nächster Nähe winkte? Und Johannes fühlte, wie all sein jugendliches Blut ihm durch alle Körperbahnen schoss und ihn ungestüm erregte. Immer lebhafter unterhielten sie sich über dieses und jenes. Und Johannes bemerkte, über sich selbst belustigt, dass er fachmännisch in Gebieten herumredete, in denen er sich wahrlich nicht im geringsten auskannte. So sprach er über Theologie, Weltraumforschung, über die moralischen Fragen der Gentechnologie und setzte dabei ein ernstes Gesicht auf. Auch sie schien von den Dingen nicht allzu viel zu verstehen, denn sie pflichtete ihm immer bei, selbst bei Punkten, wo er, wie er ganz deutlich fühlte, gar nicht im Recht sein konnte. Sie kamen derweil gar nicht auf den Gedanken, auf die Tanzfläche zu gehen. Was Johannes sehr recht war, denn seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet waren wegen mangelnder Übung durchaus bescheiden, obwohl er vor drei Jahren an dem obligatorischen Tanzkurs seines Gymnasiums teilgenommen hatte.
Als sich der Abend dem Ende zuneigte, fasste sich Johannes ein Herz und fragte Roswitha:
„Darf ich Dich heimbegleiten? Ich würde mich freuen. Gerne ginge ich jetzt noch ein paar Schritte mit Dir allein. Tübingen ist ja bei Nacht so romantisch.“
Er sah wohl, wie Roswithas Augen aufleuchteten.
„Aber gern. … Ich freue mich sehr.“ Doch da glaubte er in Roswitha eine leichte Unsicherheit zu verspüren, so als ob Schamröte ihre Wangen verdunkeln wollte. Aber er deutete diese kleine Hemmung durchaus als ein positives Vorzeichen auf die Charakterfestigkeit dieses Mädchens, das sich wohl nicht mit jedem Hergelaufenen einlassen wollte.
„Also, Roswitha, dann wollen wir gehen. Ach, ich freue mich so…“
Doch in diesem Moment geschah etwas Grässliches. Johannes hatte sich von seinem Platz erhoben und wollte Roswitha, die zur Wand hin saß, den Weg erleichtern und schob ihr deshalb einen Stuhl zur Seite, damit sie besser aufstehen könne. Wie sie nun aber von ihrem Platz aufstand, fiel ihr Körper um dreißig Zentimeter förmlich nach unten, sie schien zur Zwergin zu mutieren und schaute ihn von unten mitleiderregend an. Erst jetzt sah Johannes, dass Roswitha viel zu kurze Beine hatte, was sicherlich das Ergebnis einer Wachstumsstörung war. Es handelte sich bei ihr, daran bestand kein Zweifel, um eine Liliputanerin. An ihrem Oberkörper konnte man die Beeinträchtigung in keiner Weise erkennen. Sitzend, ihre kurzen Beine verbergend, war sie das reizendste Mädchen von der Welt. Johannes war wie gelähmt. Ein Schock hatte ihm beinah alle Besinnung geraubt. Er konnte nur noch verlegen stammeln.
„Aber, Roswitha, das ist ja furchtbar. Das habe ich nicht gewusst. - - - Du wirst verstehen, dass ich so - - - . Ich wünsche Dir alles Gute.“
„Oh ja, ich verstehe. - - - Das war mir schon von Anfang an klar. - - - Du bist nicht der Erste. - - - Aber, ich hätte dich lieben können. Wir haben uns so gut unterhalten.“
Roswithas Gesicht, das ihm jetzt wegen ihres kleinen Wuchses wie ein Kleinmädchengesicht vorkam, stand in vollen Tränen. Eigentlich hätte Johannes nun schützend die Arme um Roswithas Schultern legen und sie trösten müssen. Doch in seiner ganzen Verlegenheit schien er nur ratlos und innerlich bestürzt. Fluchtartig verließ er den Saal und ließ Roswitha zwischen anderen Studenten, die den Vorfall kaum beachtet hatten, stehen.
Er eilte mit schnellen Schritten durch die kühle Frühlingsnacht nach Hause, auf seine Studentenbude, schaute in den Spiegel und war beschämt. Ich bin doch ein schäbiger Typ, sagte er sich. Dann trank er eine Flasche des säuerlichen Biers, das als einzige Hausmarke in diesem Wohnheim vertrieben wurde, und warf sich auf seine Liege, wo ihn alsbald ein traumloser Schlummer in eine andere Welt entrückte.