Veronikas Liebe

Bild von johannes
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Veronikas Liebe

Durch hohe Schulfenster sandte die Frühlingssonne erste verschämte Strahlen zu Helmut hinüber, der Veronika gegenüber saß, die ihn liebte. Sie liebte ihn mit aufopfernder Hingabe und einer keuschen Sehnsucht, und das umso mehr, als Helmut von ihren Gefühlen nicht die mindeste Ahnung hatte. Denn Veronika war es nicht gegeben, den Jungen, den sie mochte, nur so geradewegs anzusprechen und ihm ihr Gefühl mitzuteilen.
Wohl wusste sie, dass heutzutage manche ihrer Mitschülerinnen in einem solchen Fall bedenkenlos die Initiative ergriffen hätten. Sie beobachtete zum Beispiel Erna, die frühreif entwickelte, vollbusige Erna, wie sie in aufreizenden Klamotten vor Helmuts Bank herumstolzierte, sich zuweilen auch einmal direkt vor ihn auf den Tisch setzte und ihm tiefe Einblicke in ihr Dekolleté gewährte. Dergleichen war ihr nicht gegeben. Sie sah wohl, wie Britta, die kluge, scharfsinnige und auch scharfzüngige Britta, Helmut manchmal in Gespräche verwickelte, dabei ihre Worte spitz setzte, schallend auflachte und ihm blitzende Blicke zuwarf. Das alles sah sie wohl, aber ihr war nicht gegeben, schallend aufzulachen, mit den Augen zu blitzen und Worte spitz zu setzen.
Immer wieder versuchte sie mit Helmut Blickkontakt aufzunehmen. Und zuweilen schien ihr auch, als habe er die eine oder andere Blickbotschaft wahrgenommen, verstanden und erwidert. Aber hinterher war wieder alles so wie vorher, es ergab sich weder ein Gespräch noch sonst ein Kontakt. Er ging vor ihr die Schultreppe hinunter und beachtete sie überhaupt nicht. Dann war Veronika dem Verzweifeln nahe. Sie spürte im Hals ein Würgen und musste schlucken, um nicht ins Weinen zu verfallen. Wie nur konnte sie Helmut beibringen, dass sie ihn mochte?
Was hatte sie nicht schon alles unternommen, um kleine trügerische Annäherungen an den Helmut zu erhaschen. Mit dem Opernglas ihrer Mutter hatte sie sich schon einige Male hinter der Tribüne des Stadions versteckt, wenn er mit den anderen Jungen gerade Sportunterricht hatte. Dann konnte sie seinen gut gebauten Körper in leichter Sportkleidung vergrößert vor sich sehen und erzitterte dabei vor Sehnsucht und Begierde. Umarmen wollte sie ihn, küssen, so heftig sie konnte, und selbst von seinen starken Armen umfangen werden.
Aber nicht in erster Linie empfand sie körperliche Sehnsucht für Helmut, sondern vielmehr und vor allem geistige Bewunderung. Als Chefredakteur der von ihm gegründeten Schülerzeitung hatte er nämlich schon manchen mutigen Text zu Ereignissen des weltpolitischen, aber auch des kommunalen Geschehens veröffentlicht. Und manche missbilligenden Äußerungen der Schulleitung hatte er sich auf diese Weise zugezogen. Auch im Geschichtsunterricht machte er den Mund auf und hielt mit seiner Meinung keineswegs hinterm Berg. Das bewunderte sie an ihm. Immer, wenn sich Helmut zu Wort meldete, wurde es still in der Klasse, und auch die Lehrer hörten ihm gespannt und mit leiser Angst zu. Und Veronikas Herz schlug schneller und heftiger vor Erregung.
Ach, sie liebte Helmut! Wie gern hätte sie es ihm gezeigt, ihm ihre Liebe kundgetan!
Wehmütig überdachte sie ihr eigenes Leben. Seit einigen Jahren lebte sie mit ihrer Mutter allein. Ihr Vater hatte das Weite gesucht, war in blaue Fernen entschwunden, von einer Geschäftsreise einfach nicht mehr zurückgekehrt. Seither mussten sie sich sehr einschränken, sie und ihre Mutter. Sie konnte sich keine Markenjeans leisten und blickte oft neidvoll auf die schicken T-Shirts, mit denen sich ihre Freundinnen vorteilhaft zur Geltung brachten. Seit langem schon trug sie die halblangen Faltenröcke, die ihre Mutter, gelernte Schneiderin, aus eigenen Beständen für ihre Tochter zurechtgemacht hatte. Man konnte nicht sagen, dass Veronika diese Röcke nicht standen. Aber sie sahen eben altmodisch aus und ließen sie als ein ältliches Fräulein erscheinen. Sie trug weiße Blusen, oben streng geschlossen, versehen mit kunstvollen und artigen Stickereien, die auf lächerliche Weise an alte Trachten erinnerten. Am schlimmsten aber waren ihre Haare! Zu einem runden Kranz geflochten hatten sie etwas Altjüngferliches. Schon oft hatte sich Veronika vorgenommen, heimlich zum Friseur zu gehen und sich den alten Zopf abschneiden zu lassen. Doch dieses würde einen Kampf kosten, mit der Mutter, und zudem auch Geld, das sie einfach nicht hatte.
In diesem Aufzug machte Veronika mit ihrer Mutter immer sonntags ausgedehnte Spaziergänge durch den Stadtpark, verweilte am Seerosenteich, warf den Schwänen Brotreste zu, führte mit ihrer Mutter Unterhaltungen, während sie im Innern sehnsüchtig an Helmut dachte. Samstags besuchte sie mit ihrer Mutter die Abendmesse, dann sangen sie, aus einem Gesangbuch, die altvertrauten Lieder, "Gott sorgt für mich, was will ich sorgen. Er ist mein Vater, ich sein Kind." Zuweilen befiel sie dann ein innerliches Schluchzen, das sie nur mühsam unterdrücken konnte.
Vom gering bemessenen Taschengeld kaufte sie sich immer wieder Süßigkeiten, Knobbers, von denen sie wusste, dass sie Helmut gerne verzehrte. Und dann legte sie ihm zuweilen heimlich ein Päckchen auf den Platz und beobachtete vergnügt, wie er danach verwundert in die Runde blickte und nach dem anonymen Spender suchte. Auch bei Klassenarbeiten, namentlich in Französisch, wo Helmut große Schwierigkeiten hatte, ließ sie ihm heimliche Botschaften zukommen. Da sie ihm, im Halbrund der Tische, gegenüber saß, waren solche Täuschungsversuche mit großem Risiko verbunden. Bei der letzten Klausur zum Beispiel bat sie, austreten zu dürfen, machte die Runde hinter den Tischen, kam an Helmuts Platz vorbei, tippte ihm von hinten auf die Schulter und ließ das zusammengefaltete Blatt mit der korrekten Übersetzung in seinen Hemdkragen fallen. Dann verließ sie das Klassenzimmer, indem sie Dr. Wollschläger, dem etwas betulichen Französischlehrer, den niemand im Kollegium ernst nahm, einen harmlos offenen Kleinmädchen-Blick zuwarf. Helmut war wie vom Blitz gerührt. Einige Sekunden musterte er seinen Lehrer aufmerksam, dann simulierte er ein Kratzen in der Halsgegend und angelte dabei mit seiner geschlossenen Hand den gefalteten Spickzettel heraus. Dann öffnete er diesen auf den Knien und hatte, zu seiner großen Verwunderung, die ganze Übersetzung vor sich, in mädchenhafter Schönschrift. Das ist ein Service, dachte er und übertrug das Ganze in sein eigenes Klausurenheft.
Weder er noch Veronika wussten, dass Dr. Wollschläger den ganzen Vorgang insgeheim wohl beobachtet hatte, im Blickwinkel seiner spiegelnden Brillengläser. Wohl hatte er alles gesehen, aber sich gehütet, einzuschreiten. Denn er war ein tiefer Kenner alles Menschlichen. Die geheimen seelischen Bande zwischen der unglücklich verliebten Veronika und dem hübschen Helmut waren seinem psychologischen Kennerblick nicht verborgen geblieben. Wie er nun sah, auf welche Weise Veronika dem spröden Helmut ihre Liebe zu erkennen geben wollte, da pochte das jung gebliebene Herz des Sechzigjährigen vor innerem Vergnügen. Und er hütete sich, etwas gegen diese Täuschung zu unternehmen. Wohl hatte er dabei Gewissensbisse und das sichere Gefühl, gegen seine eigentliche Pflicht zu verstoßen. Aber er war der Ansicht, Gerechtigkeit müsse etwas Höheres sein als bloße Fehlerarithmetik. So hatte er Verständnis für dieses sich scheu entwickelnde Gefühl unter den beiden jungen Menschen. Ja, ihm schien sogar, als müsse er so etwas unterstützen, vor allem, wenn er auf der anderen Seite so viel brutalen Sex unter der Jugend gewahrte, so viel radikales Ausleben der Triebe, verbunden mit einer Sprache, die nur mehr Verrohung zu kennen schien.
Als Helmut sein Heft abgegeben hatte, wartete er vor der Schule auf Veronika. Dann trat er auf sie zu und sagte:
"Du, das war toll. Find ich klasse, dass du mir geholfen hast. Hätte ich nie von dir gedacht."
Sie errötete, blickte ihm von unten tief in die Augen, dann sagte sie, ganz leise:
"Ach Helmut, du weißt gar nicht, wie gern...", sie begann zu stammeln, denn sie schämte sich, dass sie ihr Gefühl nicht besser verbergen konnte. Aber er hatte auch so verstanden. Und spontan, wie ihm ums Herz war, gab er ihr die Hand und sagte:
"Du, hast du Zeit, heute Nachmittag, für einen Spaziergang, im Birkenwäldchen?"
Sie zitterte und war vor Freude einer Ohnmacht nahe. Mit einer Stimme, die fast ins Weinen überschlug, hauchte sie:
"Aber ja, oh, ich freue mich..."
Und so begann eine der schönsten Liebesromanzen, die die Hermann-Hesse-Schule der süddeutschen Kleinstadt je erlebt hatte. Wie verabredet, trafen sich die beiden am Nachmittag im Birkenwäldchen, einem kleinen, lauschigen Hain, mit altem würdigem Baumbestand, vorwiegend Birken, deren kleine Blättchen im Winde spielten, dann auch Fichten, Tannen und einigen kräftig gewachsenen Eichen. Die Luft war erfüllt vom Gezwitscher der Vögel. Veronika und Helmut hielten sich an den Händen gefasst, an ihren heißen und feuchten Händen. Sie spürten beim Gehen, durch den Stoff ihrer Kleider, wie sich ihre Oberschenkel sanft aneinander rieben. Da er sie um Haupteslänge überragte, hatte sie, schräg von unten, ihm seitwärts ihr Gesicht zugewandt. Lange sprachen sie kein Wort.
"Du, ich hab Angst," drang es plötzlich aus ihr heraus.
"Warum? Das brauchst du doch nicht. Ich tu dir nichts." Er war halb erschrocken, aber auch bemüht, das Mädchen zu beruhigen, ihm die Angst zu nehmen. "Ach, du weißt schon," sagte sie dann, mit hauchdünner Stimme.
In der rissigen rote Farbe des Bänkchens, auf dem sie sich niederließen, waren Buchstaben eingeritzt. Veronika lehnte den Kopf an seine Brust. Er ließ seine Hand wandern und wollte ihre weiße Bluse aufknöpfen.
"Bitte nicht."
"Veronika, du weißt doch, ich hab dich gern." Er legte alle Wärme in seine Stimme.
"Bitte, lass es." Tief glänzten ihre Augen, die nun beinah in Tränen schwammen.
"Was ist mit dir? Veronika, du bist schön. Ich will dich sehen und spüren." Sein Atem machte sie benommen. Schließlich aber sagte sie, so leise, dass er alle Sinne schärfen musste, um jedes Wort zu verstehen.
"Bitte, lass mich zu dir wie eine Freundin sein. Das kann ich nicht, wenn du mich anstarrst. - Bitte, lass' mich so sein, wie ich bin." Leise begann sie zu weinen, nach kurzer Pause fügte sie hinzu:
"Und glaub an meine Liebe."
Er war im Augenblick bestürzt und ratlos. Zugleich erinnerte er sich, dass am selben Tag ein erotisches Journal mit einem prallen Playmate auf der Titelseite über die Bankreihen gewandert war und seine Klassenkameraden, aber auch er, ja, aber auch er, mit hochroten Wangen auf dieses Bild gegafft und lautstark darüber gewitzelt hatten. Diese Erinnerung erfüllte ihn nun mit tiefer Scham.
"Veronika, ich hab dich lieb, so, wie du bist."
Sein tiefer Blick senkte sich in ihre Augen, drang tief hinein in ihre Seele, und ihre Lippen fanden sich. Dann kramte er aus seiner Hosentasche einen handbeschriebenen Zettel, ein vierstrophiges Gedicht war darauf geschrieben. Beinah flüsternd begann er zu lesen.

"Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
vom Meere strahlt;
ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
in Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
die Welle steigt;
Im stillen Haine geh' ich oft zu lauschen,
wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne,
du bist mir nah!
Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.
Oh, wärst du da."

Mit geweiteten Augen folgte sie den Bewegungen seiner Lippen. Ihre Hände hatte sie hinter seinem Nacken verschränkt. Nun war er ganz der ihre, jener Helmut, den sie bislang immer nur von fern scheu betrachtet hatte, jener Helmut, den sie bewunderte, weil er so gut interpretieren konnte, mit scharfem Verstand komplizierte Dinge gewandt und treffsicher ausdrücken konnte. Ganz allein für sie sprach er nun diese wundervollen Zeilen. Dieses Gedicht, von Goethe geschrieben, schien nun für sie ganz neu entstanden. Nur für sie ganz allein.
Er streichelte ihr goldbraunes Haar, das in altmodisch geflochtenem Zopf um ihren Kopf gewunden war und sich nun, unter dem Druck seiner Finger, plötzlich löste, nachgab und offen und lose in langen fließenden Wellen herunterfiel. Im Gegenlicht der Sonne schien es zu funkeln, zu knistern, zu brennen, lichterloh wie ein Dornbusch. Sie ließ es geschehen. Zu guter Letzt sagte sie, mit beiden Händen seine rechte Hand fassend:
"So ist es gut. Wie lang hab ich mich nach diesem Augenblick gesehnt. Wir wollen zusammenhalten, wir beide."
"Ja, das wollen wir," sagte er, und ihm wurde plötzlich bewusst, wie grenzenlos allein er bis jetzt immer gewesen war.
Eine Ewigkeit schien ihnen vergangen, als sie sich schließlich erhoben und den Weg zurück gingen. Sie brauchten keine Worte mehr, ja sie fürchteten jedes weitere überflüssige Wort. Nur ihre Hände spielten miteinander, und wieder spürten sie sich beim Gehen. Seitwärts sahen sie sich an, immer wieder, abwechselnd, als müssten sie sich vergewissern, dass sie da wirklich Seite an Seite miteinander gingen und dass nicht alles nur Traum und Einbildung sei. Darauf schauten sie immer wieder nach vorne, in dieselbe Richtung, ließen ihre Blicke schweifen, wie in ferne künftige Zeiten. Es brauchte keiner Worte mehr, um sich für den folgenden Tag zu verabreden, wie ein köstliches Aroma lag das Wissen darum in der Luft, war beseligende Musik im Licht der untergehenden Sonne.

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