Im „Tumbenstüberl“ in Schabernack traf ich erstmalig auf die nette Jette. Sie ist eine kreuzfidele Holländerin, wird von allen J.J. genannt (‘Dschay-Dschay’). Immer krekel, sehr offen, geht gern auf Menschen zu, eine extrovertierte, unglaublich nette junge Frau, von Beruf Physiotherapeutin.
Wir saßen beisammen, als das Tumbenstüberl noch geöffnet haben durfte, tranken Holunderlikör, plauderten allgemein über diese Zeit und über die Corona-Pandemie im Speziellen. Jette hatte eine leicht belegte, etwas heisere Stimme. Sie klagte über den langsamen Zerfall der Werte, zeigte sich besorgt, was den Zustand des Planeten betraf, sprach von überbordender Maßlosigkeit in aller Welt. Beiläufig erwähnte sie, dass der Mietpreis in der Innenstadt Londons bei etwa 50 Euro pro Quadratmeter läge. Jette Jessen klagte ihr Leid und ich hörte interessiert zu.
Sie ist stets sehr taktil gewesen, berichtete sie. Wie bei allen Niederländern üblich, wurde früher zur Begrüßung ein Küsschen links und eines rechts gegeben, und zur Verabschiedung dann wieder. Jette vermisst das sehr. Sie braucht den Körperkontakt und kann ihr empathisches Empfinden nicht mit diesen Ellenbogen-Checks ausleben. Sie braucht Nähe, Körperwärme, ein distanzloses und heftiges Aufeinanderprallen im wunderbar prallen Leben, keine kurzen Faust- oder Ellenbogen-’Knuffelungen’, wie sie es gerne ausdrückte. Wobei gerade die holländische Sprache beim Wort Knuffelungen extrem niedlich klingt - und das dann noch im Kontext zur heiseren, belegten Stimme. Genial und knuffig. Ich liebe diese Niederländer sehr. Sind sie nicht großartig?
Jette J. hat stets beim lockeren Gespräch gern den Unterarm des Gesprächspartners berührt, hat beim Talk immer den direkten Touch gesucht. Knufft auch gern mal, boxt liebevoll, lacht viel und oft, ist eine fröhliche und sehr positive Natur. Das ist jetzt alles Vergangenheit. Jette leidet unter Corona. Ob auf der Arbeit (Physiotherapie-Praxis) oder auch privat, immer bleibt da etwas auf der Strecke. Selbst, wenn die Zeit der Pandemie dann eines Tages vorüber sein wird, glaubt Jette J. nicht, dass sich die Gewohnheiten ändern werden. Man wird aufeinander zugehen, aber kurz vor den beiden Küsschen auf die Wangen der Freundin/des Freundes zurückschrecken. Wird man sich je wieder die Hand geben?
Freundschaftsküsschen geben? Umarmungen, wie Jette Umarmungen vermisst! Alle sehr guten Bekannten, die Lieblings-Patienten, natürlich all die Freunde und die liebsten Kollegen wollen doch umhalst werden! Wie kann man darauf denn verzichten? Auch in Zukunft? Um Himmels Willen, die Zukunft (Jette seufzt und das ist für sie ein wirklich selten gehörter Laut).
Werden wir in Europa eine Nation der unterkühlt und reserviert handelnden, rational agierenden Menschen ohne jede Nähe? Werden Umarmungsbegrüßungen nur noch in der Erinnerung ablaufen? Wie wird die Zeit nach Corona wirklich sein? Grau und trostlos? Oder wird die findige Jugend einen neuen Trend kreieren? Doch, leider, gar nichts kann diese Herzlichkeit der früheren Tage zurückholen. Jette traurig zu sehen, diese fröhliche, humorvolle, ausgelassen lachende JJ deprimiert erleben zu müssen, das schmerzt sehr. Sie sagt, dass einige Kollegen dazu übergegangen seien, diese „entsetzlichen Luftküsschen zu geben, in der Nähe der Wangenpartie“. Das findet sie unmöglich. Das sei ja wie Neuken mit einer Gummipuppe. Ich verstand erst nach ein paar Sekunden. Ein drastischer Vergleich zwar, aber brauchbar.
Jette war immer wieder versucht, meinen ruhig auf dem Tisch liegenden Unterarm zu berühren, zuckte aber regelmäßig zurück. Ich begriff. JJ musste sich permanent „zur Ordnung rufen“, sich immer kontrollieren, stets selbst beobachten, um keine Fehler zu machen. Und das ist für einen spontanen Menschen eine Tortur. Der will rein aus dem Bauch heraus leben, lieben, lachen. Und die nette Physiotherapeutin, das pure Leben, wild und quirlig, musste sich nun ständig zurücknehmen und bändigen. Alle Lebenslust und Daseinsfreude schien gewichen. Lustlos zog sie an der Zigarette und trank ein wenig Holunderlikör. „Die Laster nehmen zu, und zwar in dem Maße, in dem die Lebensqualität abnimmt!“ Und weiter:
„Da massierst du mit Maske einen maskierten Menschen, weißt nicht einmal, ob der sich gerade wohl fühlt, wenn er auf dem Rücken liegt. Das Gespräch stirbt, und was hatte ich früher doch für ausgezeichnete Unterhaltungen während der Arbeit...“ Die Arbeit. Ja, Jette freut sich, noch arbeiten zu können. Doch die Hausbesuche in den Seniorenzentren werden von den Kollegen auf das Notwendigste beschränkt. Jette aber gibt sich kämpferisch: Alle ihre Patienten sollen auch behandelt werden, und gehörten sie noch so sehr zur Gruppe der Gefährdeten. Die internen Schichtpläne zur Kontaktreduzierung findet sie „grauenhaft“, die „brutalen“ Hygienevorschriften in der Praxis und beim Hausbesuch dagegen „extrem sinnvoll“. Verstärkte Handhygiene und der exzessive Gebrauch von viruziden Desinfektionsmitteln wie zum Beispiel das Desderman pure seien, so Jette, kostenintensiv. Weniger Patienten, mehr Kosten, so sei die Krise auf Dauer nicht zu stemmen. Logische Konsequenz: Stellenabbau. Vier Kollegen hätten bereits gehen müssen. Jettes Stimme klingt immer heiserer.
Fazit JJ: Wir alle trinken mehr Alkohol, bestellen mehr im Internet, anstatt die stark angeschlagenen Einzelhändler vor Ort zu stützen, produzieren mehr Plastikabfall - „Sehen Sie sich doch die ständig überfüllten gelben Tonnen an!“ und haben weniger Kontakt zu Menschen. Kann das auf Dauer förderlich sein für die Gesundheit, sei es nun physisch oder psychisch? Nein, antwortet Jette kategorisch und verschränkt die Arme demonstrativ. So ziemlich alles geht den Bach runter. Wir müssen jetzt sofort gegensteuern! Jette empfiehlt, öfter mal innezuhalten und sich des Wertes bewusst zu werden, das ein freundliches Wort oder eine nette Geste, ein Lächeln unter der Maske und ein ehrliches Lob auszusenden in der Lage sei. Mehr Menschlichkeit und vor allem mehr Herzlichkeit wagen! Und das inmitten der Krise, die ja alle Menschen betrifft und jede Ecke dieser unserer einzigen Welt! Können wir von der netten Jette Jessen noch etwas lernen? Aber ja! Mut, positive Einstellung und Trotz. Wir packen diese verdammte Pandemie in eine große Kiste und schicken die dann direkt in die Antarktis zur dort auf dem Ekström-Schelfeis betriebenen unbemannten Forschungs- Station PALAOA (PerenniAL Acoustic Observatory in the Antarctic Ocean). Mag sie sich dort selbst infizieren und hernach langsam zugrunde gehen. 36 Milliarden dieser verdammten Mund- und Nasenschutz-Masken packen wir gleich noch dazu. Und all die Millionen Kanister Desinfektionsmittel, ab dafür in die Antarktis!