Die Nudelkette

Bild zeigt Corinna Herntier
von Corinna Herntier

Es waren nur noch drei Tage bis zum Heiligen Abend. Lena war mächtig aufgeregt. Zum Glück hatte sie alle Geschenke beisammen, so konnte sie ohne Sorgen aufgeregt sein.
Was die Geschenke betrifft, so waren es nicht viele – genau genommen waren es drei. Eines für Mama, eines für Papa und eines für Oma und Opa zusammen. Lena hatte nur eine Oma und einen Opa – die Eltern ihrer Mutter. Die ihres Vaters hatte sie nie kennen gelernt, also war das ganz normal für Lena.
Auf das Geschenk für ihre Mutter war sie besonders stolz. Sie hatte nämlich in der Schule eine Halskette gefertigt – aus Nudeln. Makkaroni, in Stücke zerbrochen und aufgefädelt. Einige der Nudelstücke waren bunt bemalt mit Ringeln und Punkten. Für eine Erstklässlerin ein wunderbar gelungenes Werk! Lena verpackte das Schmuckstück in rotes Geschenkpapier mit goldenen Sternen darauf und legte das Päckchen zu den anderen beiden Geschenken in einen Schuhkarton, den sie ganz unten in ihrem Kleiderschrank versteckt hatte.
Dann lenkte sie sich ab von ihrer Aufgeregtheit, indem sie den Hamsterkäfig öffnete und Julius herausholte. Julius war ein besonders kluger Hamster – und ein sehr hungriger. Dadurch war es Lena gelungen, ihm einen Trick beizubringen: Er fraß aus ihrer Hand und stellte sich dabei auf seine Hinterpfötchen!
Mutter rief zum Abendessen. Lena durfte die Kerzen am Adventskranz anzünden und sah, während sie an ihrem Wurstbrot kaute, immerzu fasziniert in die vier strahlenden Lichter. Was Lena nicht ahnte: Hamster Julius kaute unterdessen nicht an einem Wurstbrot – er kaute an der Nudelkette. Lena hatte ihn einfach in ihrem Zimmer herumlaufen lassen und vergessen, eine Schranktür ordentlich zu schließen. Julius war wohl nicht nur klug und hungrig sondern auch neugierig … Jedenfalls hatte er sich durch den Türspalt gequetscht, war in den gemütlichen Karton gekrochen und hatte dort eine wunderbare Entdeckung gemacht: Eine hübsch verpackte, durch das Papier hindurch köstlich duftende Makkaronikette! Das Papier war schnell an einer Ecke aufgeknabbert und so konnte Julius sich seinem Appetit ungezügelt hingeben! Als er nacheinander zahlreiche Nudeln angeknabbert hatte und satt war, kroch er aus dem Karton heraus, quetschte sich mit seinem dicken Bauch wieder durch den Türspalt des Kleiderschranks und flitzte erstaunlich flink unter Lenas Bett – dort war sein Lieblingsplatz.
Auch Lena war satt. Sie betrat vorsichtig ihr Zimmer. Die grausame Vorstellung, sie könnte aus Versehen auf Julius treten, veranlasste sie dazu – es war ihr zur Gewohnheit geworden.
Unter ihrem Bett fand sie Julius. Sie versuchte ihn unter dem Bett hervorzulocken und dazu zu bringen, ihr aus der Hand zu fressen. Die mitgebrachten Haferflocken ließen Julius erstaunlich kalt. Er reagierte nicht! Lena bückte sich tief herab, griff unter ihr Bett und holte ihren Hamster hervor.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie beiläufig und setzte ihn kopfschüttelnd zurück in seinen Käfig.
Am Morgen des 24. Dezembers begann Lenas Mutter, das Weihnachtszimmer fertig zu machen.
„Lena, ich schließe gleich das Weihnachtszimmer ab, soll ich von dir vielleicht auch etwas unter den Baum legen?“
„Ja! Warte einen Moment, Mama. Ich hole die Geschenke.“
Als Lena gleich darauf in ihren Karton blickte, erschrak sie heftig! Das rot verpackte Geschenk war zerfleddert! Kaputt! Mit zittrigen Händen holte sie es hervor und packte es aus. Die hübsche Kette war nur noch bruchstückhaft vorhanden!
„Julius!!“, rief sie vorwurfsvoll! „Du verfressener, dummer Hamster!“ Dann begann sie zu weinen.
Lenas Mutter hörte das. Sie steckte den Kopf zur Tür herein.
„Was ist denn passiert, Kind?!“
„Julius hat dein Geschenk gefressen!“, antwortete Lena wahrheitsgemäß. Ihre Mutter konnte sich ein Grinsen gerade noch verkneifen.
„Und wenn du mir etwas anderes schenkst? Über ein Bild würde ich mich sehr freuen.“
Lena schüttelte energisch den Kopf.
„Nein! Kein Bild!“ Sie schniefte. „Mama, haben wir Makkaroni im Haus?“
Ihre Mutter verneinte erstaunt.
„Ich habe aber verschiedene Nudelsorten gekauft. Komm‘ doch einfach mit in die Küche und schau sie dir an. Vielleicht kannst du ja etwas davon gebrauchen.“
Lena folgte dem Rat ihrer Mutter und als sie die Nudelvorräte erblickte, hellte sich ihr Gemüt auf. Kurz darauf war sie in ihrem Zimmer verschwunden und kam auch eine ganze Weile nicht wieder heraus. Erst als ihr Vater klopfte und ihr sagte, dass das Mittagessen fertig sei, kam Lena wieder zum Vorschein. In den Händen hielt sie drei Geschenke.
„Hier Papa, kannst du die unter den Christbaum legen?“
„Aber gern, mein Schatz“, sagte der fröhlich und nahm ihr die Päckchen ab.
Endlich war der Heilige Abend gekommen! Lenas Oma und Opa waren mittlerweile auch da. Als es nun Zeit für die ersehnte Bescherung wurde, durfte Lenas Oma die kleine Glocke nehmen und bimmelte damit so laut sie konnte. Als Lena das Klingen des Glöckchens hörte, kam sie herbei und betrat mit klopfendem Herzen das Weihnachtszimmer.
Als ihre Mutter ein kleines rotes Geschenk öffnete und den Inhalt erblickte, ging ein Strahlen über ihr Gesicht! Sie nahm eine Sternchennudelkette heraus, bei der einzelne Sterne rot, grün und blau waren und legte sie sich um den Hals.
„Lena! Ich weiß ja nicht, was du mir eigentlich schenken wolltest, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass mir irgendetwas besser gefallen hätte, als diese Sternchennudelkette! Vielen Dank, meine Süße!“ Damit kniete sie sich vor Lena und drückte sie an sich. Die war darüber sehr glücklich und erleichtert!
Bevor Lena zu Bett ging, holte sie Julius aus seinem Käfig. Böse war sie ihm nun nicht mehr.
„Na Julius, hättest du auch Mamas Sternchen-nudelkette gefressen?“ Während sie fragte, hielt sie ihm eine Sternchennudel hin. Julius‘ Antwort war eindeutig: Er stellte sich sogleich auf seine Hinterpfötchen und holte sich die kleine Nudel. Knack, knack, knack und weg war sie. Hamster kennen kein schlechtes Gewissen …

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