In meiner Einsamkeit zog ich mich gerne auf den Friedhof meiner Heimatstadt zurück und unterhielt mich mit den Verstorbenen, war mir gewiss, dass sie mich hören konnten. Ich fühlte mich ausgesprochen wohl bei ihnen und konnte an manchen Tagen sogar ihre Anwesenheit spüren, wünschte mir oft, mich für ihre Gesellschaft revanchieren zu können.
Als ich eines Abends wieder den Friedhof besuchte, hörte ich plötzlich ein lautes Weinen und Klagen. Ich blieb stehen und wandte mich um. Eine Frau mit langen dunklen Haaren schwebte über einem Grab. Ihr weißes Kleid war in ein helles Licht getaucht und ihre Miene zeugte von tiefer Traurigkeit. Die Mundwinkel waren weit nach unten gezogen und über ihre blasse Haut flossen Tränen wie kleine Wasserfälle.
Ich ging zu der Frau, doch sie schien mich nicht zu bemerken.
„Wer bist du?“
Die Frau zeigte nur auf den Grabstein und ich las den Namen eines Mannes. Daneben war ein Foto von ihm angebracht.
„Ist das dein Mann?“
Die Frau kreischte und verschwand. Ich holte aus meiner Jacke mein Handy hervor und fotografierte den Grabstein, fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Die halbe Nacht lang saß ich vor meinem Computer und recherchierte über den Mann, doch was ich über ihn herausfand, war für mich ein großes Rätsel.
Am nächsten Tag ging ich neuerlich auf den Friedhof und suchte das Grab auf, über dem die Frau geschwebt war. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich beim richtigen Grabstein stand, dennoch konnte ich nirgendwo mehr den Namen des Mannes oder sein Foto entdecken. Alle Reihen durchquerte ich, ließ nicht ein einziges Grab aus, doch sein Name und sein Foto waren auf keinem der Steine auffindbar.
„Wenn ich dir helfen soll, dann musst du mir nun weiterhelfen.“
Wieder hörte ich das laute Weinen und Klagen und wieder war sie da: die Frau in dem leuchtenden Gewand. Wie letzten Abend schwebte sie über dem Grab, bei dem ich zuerst gewesen war, und hatte ihren Zeigefinger auf den Grabstein gerichtet. Ich traute meinen Augen kaum. Mit der Frau waren auch der Name und das Foto des Mannes aufgetaucht.
„Er lebt!“
Noch lauter weinte und klagte die Frau, dabei sagte ich die Wahrheit. Ich hatte den Mann letzte Nacht in einem Livestream im Internet gesehen.
„Bitte verrate mir, was ich für dich tun kann!“
Ich wusste weder ein noch aus, verstand einfach nicht, was die Frau mir mitteilen wollte.
„Wenn du es nicht sagen kannst, dann führe mich wenigstens zu ihm!“
Möglicherweise würde ich hinter ihr Geheimnis kommen, wenn ich mich an die Fersen des Mannes heftete.
Die Frau streckte ihre Hand nach mir aus und ich legte die meine in ihre. Sogleich wurde es mir schwarz vor Augen und ich verlor das Bewusstsein.
Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, als ich wieder zu mir kam und neben dem Mann in einem Auto saß. Er war beim Fahren eingenickt und steuerte auf dem linken Fahrstreifen direkt auf einen Lastwagen zu.
„Vorsicht!“
Ich riss das Lenkrad herum und wir konnten dem uns entgegenrasenden LKW gerade noch ausweichen. Erleichtert atmete ich durch. Keine Sekunde zu früh war ich neben dem Mann aufgewacht.
Nun wurde mir auch klar, was mir die Frau in dem leuchtenden Gewand klar zu machen versucht hatte. Nicht, dass ihr Mann schon tot war, sondern dass er im Begriff war, zu sterben.
„Wer sind Sie? Und wie sind Sie hier hereingekommen?“
Der Mann blieb am Straßenrand stehen und wir stiegen aus. Ich schwieg. Was hätte ich ihm denn auch sagen sollen? Die Wahrheit? Bestimmt hätte er mir kein Wort geglaubt.
„Wie auch immer, danke jedenfalls.“
Nachdem sich der Mann wieder einigermaßen von seinem Schock erholt hatte, brachte er mich nach Hause und ich besuchte den Friedhof meiner Heimatstadt, wo mich die weiß gekleidete Frau bereits erwartete.
„Danke.“
Die Trauer verschwand aus ihrem Gesicht und zum ersten Mal sah ich sie lächeln. Sie winkte mir zum Abschied und löste sich langsam in Licht auf. Nun durfte sie endlich wieder in Frieden ruhen und ich war nicht mehr einsam, hatte ich in ihrem Mann doch einen Freund fürs Leben gefunden.