Heute bin ich mit Irene verabredet. Nein, nicht persönlich, sondern telefonisch. Persönlich war früher, in meinem anderen Leben in einer industriellen Kleinstadt Nordkasachstans. Irene und ich waren Deutschlehrerinnen an einer Schule und privat befreundet. Uns einten, außer gemeinsamen beruflichen Interessen, Musik und Kunst. Wir waren beide geschieden und Mütter zweier Kinder. Als ich Anfang der 1990er Jahre nach Berlin übersiedelte, hörten wir einige Jahre nichts voneinander. Irgendwann rief Irene mich aus einem Städtchen im Sauerland an. Das war eine Überraschung. Sie hatte lange mit ihrer Familie auf die Einreisegenehmigung warten müssen, dann folgten die Jahre des Einlebens. Diese harte Zeit für Aussiedler kannte ich. Irene war bereits im Rentenalter. Ihrem Sohn Victor und ihrer Schwiegertochter Lisa gelang auf Grund guter Sprachkenntnisse die Anerkennung ihrer Hochschulausbildung als Ärzte. Victor ist Anästhesist in einer Klinik, Lisa eröffnete eine gynäkologische Praxis. Das ist eine große Leistung! Mir ist bekannt, wie gute Ärzte aus Kasachstan am Fließband stehen oder als Pfleger arbeiten. Sie haben die Approbation nicht geschafft. Ihr Sohn studiert Informatik. Die Enkel sind erfolgreich in der Schule. Sie wohnen gemeinsam in einem Haus. Ich freue mich für sie und die Kinder. Ein mustergültiges Migrantenschicksal!
Seitdem ruft Irene mich regelmäßig an und berichtet von beruflichen und schulischen Erfolgen. Sie kann zu Recht stolz sein. Die Gespräche mit ihr stimmen mich positiv. Das Leben als Migrant besteht bei weitem nicht nur aus positiven Ereignissen. Wir haben Erinnerungen, die wir wie kostbare Talismane in unseren Herzen bewahren. Ab und zu überkommt uns Nostalgie, es rollt eine Träne die Wange herunter, wenn wir uns an unseren verstorbenen Direktor, einen lieben Menschen, erinnern. Meistens lachen wir und freuen uns auf die Möglichkeit, uns irgendwann gegenseitig zu besuchen.
Heute klingt Irenes Stimme anders als gewöhnlich, irgendwie angespannt, als sie am Telefon sagt: Du, ich muss dir etwas erzählen.“ Sie war mit Sohn und Schwiegertochter zu einer Caritas-Gala für Ärzte eingeladen. Beide nehmen an internationalen Tanzturnieren teil, sind in die Profi-Liga aufgestiegen. Ich bewundere ihre Leistung. Irene stärkt ihnen den Rücken, kocht, passt auf die Kinder auf. Dafür bedankten sie sich mit dieser Einladung.
Die Stimmung war feierlich, die Damen in Abendkleidern, die Herren im Frack, auch Lisa und Victor legten Abendgarderobe an nach dem Tanz. „Zum ersten Mal im Leben, mit über siebzig Jahren, trug ich ein langes Kleid“ sagt Irene, ein bisschen verwundert über ihren Mut. „Eine Frau um die vierzig, vielleicht war sie älter, trat an unseren Tisch, du weißt ja, einheimische deutsche Frauen sehen jünger, unverbrauchter als wir aus.“ Die Unbekannte lächelte sympathisch, sie tauschten Höflichkeitsfloskeln aus, nippten an den Sektgläsern. Als sich Lisa und Victor zu den Tanzenden gesellte, wandte sich die Frau Irene zu. „Ich werde die Gala nun verlassen, doch bevor ich mich verabschiede, möchte ich etwas loswerden. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Richten Sie Ihren Kindern aus, sie sind zwei hübsche Menschen mit einem bezaubernden, offenen Lächeln, aber sie sollten weniger Zähne zeigen, denn sie fallen durch so viel Gold im Mund einfach fremd auf. Ich meine es wirklich nur gut.“ Die Frau verabschiedete sich herzlich und ging. Irene stieg die Röte ins Gesicht, ihr krankes Herz pochte, ihr wurde schlecht. Ich konnte ihren Zustand nachempfinden. Das war für sie wie ein Schlag ins Gesicht. Die Kinder merkten ihr sofort die Verstörung an, als sie von der Tanzfläche zurückkehrten. Irene erzählte, was die Frau gesagt hatte. Sie hörten auf zu lächeln und schlossen die Münder. Bald darauf verließen sie die Veranstaltung.
„Verstehst du das?“, fragt mich Irene. „Wieso mögen Deutsche kein Zahngold? Es ist unschädlich und zudem praktisch.“ – „Gold mögen sie schon, aber nicht im Mund“, versuche ich einzulenken. Mir ist natürlich klar, dass meine Erklärung nicht plausibel klingt. Weshalb bemerkte sie nicht schon früher, dass sie als Einzige mit Goldkronen funkeln? Ich frage lieber nicht nach. Mir war sofort aufgefallen, dass man in Berlin keine Goldzähne zu Gesicht bekommt, auch kaum Pullover mit Glitzerfäden. Meine Pullover glitzerten wie Tannenbaumschmuck. Früh lernte ich, man fällt ordinär auf, russisch eben. Vielleicht sieht es im Saarländer Städtchen anders aus? Irene, merkte ich, verstand die Welt nicht. Ihr ging es nicht um Besitzerstolz. Es kränkte sie, dass sie trotz aller Bemühungen als Migrant erkannt wurde. Das Gefühl war mir nicht fremd, wenn auch in anderen Zusammenhängen. Damit musste man als Migrant leben.
„Gräme dich nicht“, sagte ich. „Die Frau hat es gut gemeint. Es wird etwas wehtun, neue Kronen einzusetzen, dafür haben deine Kinder weiße Zähne wie ihre ersten. Das ist natürlicher. Lass das Gold für eine gute Sache einschmelzen, z.B. für das Studium der Enkel. Ich hatte leider kein Gold zum Einschmelzen. Bereue es nicht! Das Gold ins Grab mitzunehmen, würde auch weh tun, oder?“ Irene seufzt. „Du hast Recht. Man muss für die Integration auch etwas aufgeben.“ Ich möchte jetzt nicht das russische Sprichwort verwenden, denn ich liebe Deutschland, aber es passt: „S wolkami shitj, po woltschji wytj.“ – Und bedeutet so viel wie – man muss mit den Wölfen heulen. „Wir sind unter Menschen, die keine kaputten Zähne im Alter entblößen, sondern schöne Zähne haben. Wir sind integriert, das ist wichtiger als Goldkronen“, sage ich. Lachend gehen wir zum nächsten Thema über.