Voller Vorfreude sitze ich im Warteraum einer homöopathischen Zahnarztpraxis. Das nimmt mir wohl kaum jemand ab, es ist aber so. Nachdem ich von meinem früheren Zahnarzt erfahren habe, dass alle zahnärztlichen Salben Cortison beinhalten, beschloss ich, mich nach alternativen Methoden in der Zahnmedizin umzuhören, das war Mitte der 1990er Jahre, als es noch nicht Google gab. Und stieß auf ein Verzeichnis der Zahnärzte für naturheilkundliche Methoden. Damit öffnete sich für mich eine neue Perspektive, denn mir waren die Möglichkeiten der Naturheilmethoden aus dem Elternhaus vertraut.
Der modern ausgestattete Warteraum ist bis auf meine Person leer. Kaum angemeldet, werde ich von der Zahnarztassistentin aufgerufen. Der Arzt, Mitte Vierzig, erwidert meinen Gruß. Und ich nehme auf dem unbeliebten Patientenstuhl Platz.
„Was führt Sie zu mir?“, fragt er.
Eine plausible Frage. Nun hätte ich auch eine einfache Antwort geben können wie zum Beispiel: Meine Zähne führen mich zu Ihnen. Das würde wohl nicht nur fehl am Platz, sondern unhöflich klingen. Und ich habe sowieso das Bedürfnis, auf den Grund des Besuches genauer einzugehen.
„Ich komme aus Russland, genauer gesagt aus Kasachstan, früher war es ein Teil Russlands. Mein Vater legte besonderen Wert auf Naturheilmethoden.“ Ich komme nicht zu weiteren Erläuterungen.
„Ja, ja, ich weiß, ihr Vater Russe, rote Nase, jeden Tag Wodka.“
„Aber nein!“, falle ich dem Arzt ins Wort. „Mein Vater nahm keinen Wodka in den Mund.“
„Ach so, gluck, gluck!“, sagt der Arzt verächtlich und führt eine imaginäre Flasche zum Mund.
Seine Bemerkung schmerzt mich wie eine Ohrfeige, die meiner Seele weh tut. Und sie trifft auch meine Eltern, sie würden sich im Grabe umdrehen. Ich unternehme noch einen Versuch: „Mein Vater und meine Mutter waren Deutsche, er hieß Rudolf und sie Meta.“
„Ach, von Russen halte ich nichts. Amerikaner sind gute Menschen.“, erwidert der Arzt.
Ich höre auf, mich zu rechtfertigen und denke: Nichts wie raus hier! Aber meine gute Erziehung verbietet es mir. Wie versteinert bleibe ich auf dem Stuhl sitzen.
Dann schaut sich der Arzt doch noch meine Zähne an und findet alles in Ordnung.
Mich interessiert nicht mehr, ob das stimmt. Die gute Nachricht freut mich nicht einmal. Bestimmt ist der Zahnarzt froh, mich, die Russin, nie wieder sehen zu müssen. Eigentlich müsste ich nun erleichtert den Raum verlassen, aber der Schock sitzt zu tief. Seine unverhohlene Aversion, noch dazu von einem gebildeten Menschen, trifft mich völlig unerwartet. Wie eingeschränkt kann ein Mensch sein, dazu ein gebildeter, frage ich mich immer wieder. Mir ist längst klar, Bildung allein macht keinen guten Menschen. Vielleicht hat seine Familie schlechte Erfahrungen mit Russen gemacht. Wohingegen Amerikaner Deutschland während der Blockade durch die Russen in den Nachkriegsjahren geholfen haben. Aber er ist an der Meinung anderer nicht interessiert. Dabei wollte ich ihm von meinem Vater und den Naturheilmitteln meiner Eltern erzählen.
- Fortsetzung folgt -