An irgendeinem jener in der Vergangenheit versunkenen Tage, wir nannten diesen speziellen damals 'heute', wurde es mit einem Mal Frühling, dass es nur so eine Art hatte. Meister Lenz machte sich dermaßen heftig über Stadt und Land her, dass sogar Nachbars alter Lastwagen am Auspufftopf unserer Lastwägin schnüffelte. 'Wird heute Bin Ladens Gehirn verhaftet?' jubelte es, der allgemeinen Euphorie entsprechend, aus den Zeitungen heraus.
Unser Vater wollte sich davon nicht das Geringste entgehen lassen. Deshalb ließ er uns Unmündige am Küchentisch zurück und stieß in den Garten vor. Aus diesem kam er nach schier endlos sich dehnenden Minuten, während derer wir Zurückgelassenen verzweifelt die Hände gerungen hatten, zurück und rief begeistert: "Dieser Tag wird uns immer als der Tag im Gedächtnis bleiben, der uns als 'der Tag' im Gedächtnis geblieben ist!" "Ei freilich!" jubelten wir ihm zu, uns blieb gar keine andere Wahl. Denn wir kannten niemanden, der die Seinen so restlos in der Hand gehabt hätte, wie er. (Dabei verlief sein Dasein haarscharf am Rande des Bemerkenswerten. Er hatte sich gerade so eingelebt im Leben, und wollte die ihm verbleibenden Jahre eigentlich nach dem Motto: 'Mehr ist nicht drin!', dem Leitspruch aller Namenlosen, aufbrauchen.)
"Deshalb kann ich nicht länger mehr schweigen!" rief Vater weiter. Er schwitzte heftig dabei.
"Doch, du kannst alles, was du willst, weil du der mit Abstand bedächtigste Woller bist, den wir kennen!" riefen wir, da uns sein Ausbruch, bei ihm, diesem ansonsten völlig ausbruchslosen Menschen, in Grund und Boden ängstigte. "Die Schwachen schmeicheln, um zu schwächen" erwiderte Vater, der uns durchschaute, wann immer er dies für geboten hielt. Als wir beschämt die Köpfe neigten, rannte er, nach wie vor im Nachthemd, das ihm erwartungsvoll um die stacheligen Beine flatterte, zum zweiten, und, wie wir alle ahnten, entscheidenden Mal aus dem Haus. "Es gilt, der Welt ... !" hörten wir ihn durch die Türe rufen, die er ganz gegen seine, wie er sie nannte, 'ehernen' Gewohnheiten, zu schließen vergessen hatte. Seine weiteren Worte verwehte der Frühlingswind, welcher uns dafür, wie zum Trost, den Duft warmer Hundeköttel in die Stube wehte.
"Kinder, wir bleiben sitzen wo wir sind", wisperte Mutter aus dem Besteckkasten. "Irgendwann muss auch dieser Spuk ein Ende haben!" Wir Kinder bedachten den Verlauf früherer Spuke, kamen zu dem Schluss, dass die Mehrzahl davon noch recht ordentlich am Rumoren war und wurden von Schwermut übermannt. "Nicht einen Augenblick zweifeln wir an deinem Wort, gute Mutter", sagten wir jedoch, wie immer höflich bis auf die Knochen, setzten eine zierliche Kunstpause hinterher, in der sie sich restlos vom Gegenteil überzeugen konnte.
Als ausgepichte Feinfühlerin, die sie war, kletterte sie auch prompt auf den Herd, um Reis zu kochen. Wir kochen in solchen Fällen immer Reis, es gibt kein besseres Mittel gegen aufkommende Zweifel.
"Er ist im Nachthemd aus dem Haus, Mutter", sagte, wie es ihm zustand, der Brutälteste. "Ich weiß", erwiderte Mutter. Was hätte sie sonst auch antworten sollen? Unwissenheit hat man in unserer Familie schon immer als geschmacklos empfunden. Wir sahen uns an und lasen in unser aller Blick die nämliche Ahnung: man würde an Stelle von Bin Ladens Gehirn dasjenige unseres armen Vaters verhaften.
"Singen wir ein Lied, bis das Wasser kocht", befahl Mutter, und gab mit dem Löffel den Takt vor. So sangen wir ohne langes Murren das Lied, welches wir immer singen, wenn sich der häusliche Frieden partout nicht von selber einstellen will:
"Als unsre Tante schließlich brannte,
sie lichterloh durchs Städtchen rannte ..."
"Wir werden uns fortan so tief im Leben verstecken, dass der Tod uns nimmermehr finden soll", sagte Mutter, als das Reiswasser sprudelte und wir alle mit wund gesungenen Kehlen wieder einträchtig um den Tisch saßen.
"Und Vater? Wie findet uns Vater?" riefen wir, so synchron, als hätten wir heimlich geübt.
Mutter kippte zwei Tassen Reis ins Wasser.
‚Ach der...’, sagte sie.
Wir sprachen nie wieder über ihn.