Picasso - eine Hundefreundschaft

Bild von Dieter J Baumgart
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    Er war eine gelungene Mischung aus Pyrenäenschäferhund und Collie. Groß, kräftig gebaut, das lange seidige Fell vom Collie, beide Eltern wahrscheinlich Hütehunde. Das Alter bei seiner Ankunft vermutlich ein bis eineinhalb Jahre. Er erschien – wohl nach langer Wanderschaft – in unserem Dorf und suchte sich eine Malerin als Frauchen aus. Die gab ihm den naheliegenden Namen "Picasso" und war mit dem ungestümen Wesen des jungen Hundes völlig überfordert.
    Picasso liebte alle Menschen, kippte sie aber auch manchmal vor Freude aus den Schuhen, was ihm im Dorf die Bezeichnung "ein schrecklicher Hund" eintrug. Hélène, die Malerin, war bald am Ende ihrer Kräfte und Erziehungsmittel. Eine Leine mit einer zarten Frau am anderen Ende war dem Wirbelwind nicht gewachsen.
    In diesen ersten Wochen wurden die Grundlagen für eine Freundschaft gelegt, die mehr als 14 Jahre überdauerte. Picasso liebte sein Frauchen, aber alle Erziehungsmaßnahmen perlten an ihm ab.    
    Eines Tages freundete er sich mit einer Besucherfamilie mit Kindern so innig an, daß Hélène die Leute bat, ihn mitzunehmen, sie sei ihm nicht gewachsen. Es tat ihr in der Seele weh, und sie weinte. Drei Tage später war Picasso wieder da und beide waren glücklich. Da ihre Erziehungsversuche auch weiterhin nichts fruchteten, war sie schließlich froh, wenn ich mich seiner annahm. 
    Und so zog ich, wann immer ich Zeit erübrigen konnte, mit ihm durch die Natur. Wir, meine Frau und ich, nahmen ihn in Pflege, wenn Hélène auf Reisen war oder Ausstellungen hatte, und Picasso schätzte diese erziehungsfreien Tage sehr.
Zugegeben, in den ersten Jahren gab Picasso so manchen Anlaß für einen Ehekrach, und meine Frau suchte dann unter den Pinien im Talkessel ihren "Schmollbaum" auf. Wenn der wilde Hund wieder einmal eine Besucherin "angefallen" hatte, was, von ihm aus gesehen, doch nur eine Begrüßung sein sollte, dann gab es Ärger.
    In dieser Zeit entwickelte sich unsere Freundschaft zu einem festen Band – natürlich, ohne meine Frau auszuschließen. Sie war ja auch nicht nachtragend. Und als Picasso wegen einer Maulinfektion, die von der Mundhöhle auf die rechte Augenhöhle überzugreifen drohte, eine Woche bei uns in Pflege war, tat sie alles, was möglich war.
    Aber daß wir drei schließlich über die vielen Jahre hinweg so gut miteinander auskamen, war letztlich auch Picasso zu verdanken, der im Laufe der Jahre ein feines Gefühl für den Umgang mit großen und kleinen Menschen entwickelte.
    Daß mit Erziehung bei ihm nichts zu machen war, hat letztlich natürlich auch sein Frauchen eingesehen. Und wenn sie es fast zwanghaft immer wieder versuchte, nahm er das mit heiterer Gelassenheit hin. Ja, sogar eine gewisse Art von Humor war ihm nicht fremd. Aber er war auch lernfähig und wußte, was er tun mußte, um an das gewünschte Ziel zu kommen.
    So begriff er mit der Zeit auch, daß seine Begrüßungen sanfter ausfallen mußten und daß man nicht jeden fremden Hund grundlos zur Hölle jagen konnte. Einzige Ausnahme war das Auto, wenn er drinnen saß – er liebte das und war ein begeisterter Mitfahrer. Näherte sich jedoch ein Fremder, so wurde er zum Zerberus und wir mußten uns die Ohren zuhalten.
    Den Parkplatzkassierer in St. Guilhem le Desert, einer kleinen Stadt in der Nähe, kannte er von vielen Ausflügen, aber das half nichts. Begleitet von einem wahren Höllenlärm im Auto, bezahlten wir unseren Obulus. Verließen wir dann zu Fuß den Parkplatz, ließ Picasso sich vom selben Kassierer streicheln und war das sanfteste aller Lämmer.
    Ein besonders schönes Beispiel war sein Umgang mit Kindern, die er als Spielkameraden überaus schätzte. Und so machten wir mit Picasso auch häufig Ausflüge nach St. Guilhem. Auf dem zentralen Platz am Kloster steht da eine riesige Platane und gleich daneben gibt es einen großen Springbrunnen, Anziehungspunkt für viele Kinder. Picasso begriff intuitiv, daß die meisten Kinder Angst hatten, weinten oder wegliefen, wenn er in Spielfreude auf sie zu stürmte.
    Also setzte er sich still an den Rand des Wasserbeckens und begann mit vorsichtigem Augenkontakt, machte auch wie zufällig Pfoten- und Kopfbewegungen, und wenn er ein paar Wassertropfen abbekam, setzte er sein unnachahmliches "noch-mal-bitte"-Gesicht auf. Binnen weniger Minuten hatte er eine Horde begeisterter Kinder um sich versammelt und war voll in seinem Element. Und auch die Erwachsenen rundum an den Tischen hatten ihren Spaß.
    Interessant war auch sein Umgang mit kleinen Kläffern, die er üblicherweise gar nicht wahrnahm. Ging ihm hin und wieder aber so ein Typ – nicht selten war es ein Jack Russel – zu sehr auf den Geist, dann packte er ihn plötzlich im Nacken, schüttelte ihn und stellte das vor Angst erstarrte Tier wieder auf die Beine. Einmal meinte ein verständnisvolles Herrchen: „Siehste, das kommt davon“.
    Es konnte aber auch vorkommen, daß andere Hundebesitzer ihre kleinen Lieblinge angesichts dieses Vorgangs sicherheitshalber auf den Arm nahmen. Wenn wir, meine Frau, Picasso und ich im Supermarkt einkauften, blieb ich natürlich mit dem Hund am Eingang stehen. Und wenn eine Hundeliebhaberin unter den Kassiererinnen gerade keine Kunden hatte, besuchte sie uns und meinte: „Na, du bist aber ein schöner und braver Hund.“
    Tja, dachte ich dann, so ist das nun mal.
Gelegentlich, wenn wir beide irgendwo auf einer Bank auf meine Frau warteten, wurden wir auch schon mal fotografiert. Es bot sich einfach an, denn vom Gesicht her waren wir uns schon recht ähnlich, Picasso und ich. Allerdings soll ich seltener gebellt haben – sagt man.
    Eines muß natürlich auch angemerkt werden: Diese tiefe Freundschaft konnte nur in einer freien, zwanglosen Umgebung mit viel Auslauf in freier Natur, ohne Einschränkungen durch Großstadtverkehr und für Hunde nicht nachvollziehbare Ge- und Verbote gedeihen.
    Wenn wir gemeinsam oder mit Freunden im Cirque de Mouréze, dem Talkessel an dessen Rand unser Dorf liegt, unterwegs waren, dann hatte er seine Herde, je größer desto besser.
    Selbst für wildfremde Menschen, die nur den gleichen Wanderweg nutzten,
fühlte er sich verantwortlich und war nur damit beschäftigt, auf uns zu achten. Wenn wir beide allein in den Felsen herumkletterten, ließ er mich an schwierigen Stellen nicht aus den Augen. Er machte aber auch Streifzüge, wenn er mich in Sicherheit wußte, und erschien, nach zehn und mehr Minuten, erst nach längerem Rufen mit seinem unnachahmlichen "Ach, ist was?"-Gesicht und gab sich als lieber Hund. Wir durchquerten an Jägerrastplätzen ganze Jagdhundrudel, Picasso dicht neben mir, der ganze Hund eine Aussage: "Ich darf das, ich hab' meinen Menschen dabei!" 
    Spaziergänge durch wildes Gelände liebte er über alles. Bei ihm habe ich eine Pfadfinderlehre gemacht: Im unwegsamen Felschaos des Cirque de Mouréze überließ ich ihm die Führung und trottete einfach hinterher, was er sehr schätzte.
    So lernte ich, Ziegenwege von gangbaren Pfaden zu unterscheiden, noch bevor Felswände oder undurchdringliches Gestrüpp Einhalt geboten. Auch Abgründe erahnte ich schon an der Umgebung, und nicht erst, wenn ich davor stand. Doch es gab auch Sachen, die waren ihm unheimlich. Sturm, Nebel und Gewitter gehörten dazu. Dann wäre er gern Schoßhund gewesen und auf meinen Arm gesprungen.
    Einmal, auf einem großen Parkplatz am See geschah Folgendes: Auf dem Platz standen noch Pfützen vom letzten Regen, es donnerte schon wieder verhalten und wir packten das Auto. Picasso war genervt vom lauten Geräusch der japanischen Lenkdrachen und verbellte sie verärgert. Plötzlich ein unerwarteter Donnerschlag, ganz in der Nähe.
    Unser lieber Hund, der sich eben noch über einen Lenkdrachen aufregen mußte, rannte in Panik quer über den Parkplatz, durch die Pfützen und auf das nächste offenstehende Auto zu. Mit einem Hechtsprung hinein auf die Rückbank. Leider war es nicht unser Auto und die Rückbank voller weißer Kleidung, die nun übersät war mit nassem Lehm vom Parkplatz. Draußen stand der völlig aufgelöste Besitzer.
    Er war so fassungslos, daß er nicht einmal wütend wurde, aber er war den Tränen nahe. Während ich versuchte, den total verängstigten Hund aus dem Auto zu zerren, was der Kleidung auch nicht gut tat, erklärte ich dem geschockten Besitzer, daß der Lehm ganz leicht zu entfernen sei und überhaupt. Ich wußte das besser, aber was sollte ich tun? Es war unsäglich peinlich, und meine Frau betrachtete den Vorgang mit Interesse aus der Entfernung.
    Picasso war auch ein Seehund, der seinesgleichen suchte. Stundenlang schwamm er in etwa zwanzig Meter Entfernung vom Ufer. Ich ging trockenen Fußes nebenher und warf Steinchen ins Wasser, auf die er dann zu schwamm. Das war wichtig. Denn nur einfach vor sich hin zu schwimmen, wäre natürlich langweilig. Aber auch zu Lande liebte er das Steine werfen über alles.
    Vor unserem Haus erstreckt sich ein großes Plateau in den Talkessel. Wenn er zu Besuch kam und ich machte Anstalten, dieses Gelände zu betreten, war die Sache schon geklärt: Steine werfen war angesagt, und zwar stundenlang. Picasso fegte voraus, besorgte einen handlichen Stein, und kaum war ich auch eingetroffen, wurde mir die Klamotte vor die Füße geworfen und mit herausforderndem Blick hieß es: So, nu los, aber zack-zack...
    Im Laufe der Zeit entwickelte ich allerdings eine Methode, Picasso zu ermüden, bevor auch mich die Kräfte verließen. Schon in Erwartung des lieben Hundes sammelte ich frühzeitig einen Haufen passender Steine etwa in der Mitte des Geländes. Traf er dann ein, ging es gleich ans Eingemachte:
    Der erste Stein flog weit nach links, Picasso hinterher – Kurve kratzen am Aufschlagpunkt – und zurück. Da brachte ich aber schon den nächsten Stein nach rechts auf den Weg. Picasso fegte nur noch an mir vorbei, immer in beiden Richtungen bis ans Ende des Platzes. Er nahm sich auch nicht die Zeit, einen Stein zurückzubringen. Wozu auch. Nur das Rennen war wichtig. Nach einer knappen halben Stunde gingen mir dann die Steine aus. Aber auch der Hund kippte fast von den Pfoten und japste nach Wasser.
    Später, im hohen Alter und behindert von einem schmerzhaften Beckensyndrom, waren es die abendlichen geruhsamen Spaziergänge durchs Dorf, zu denen er mich stets abholte.
    Am Ende konnte er kaum noch gehen, aber er schleppte sich die zweihundert Meter von seinem Domizil zu uns, und gemeinsam gingen wir zurück zu seinem Frauchen, wo ihn eine kleine Jagdhundefamilie freudig begrüßte, die ihn, den Hunde-Opa, sicher bis an das Ende seiner Tage jung erhielt.
    Mit der Zeit wurden seine Besuche unregelmäßiger, und es kam vor, daß wir eben dabei waren, das Haus zu verlassen, weil wir eingeladen waren, als Picasso vor der Tür stand. Es war keine Frage, daß unsere Freunde warten mußten:  Der Hund wurde nach Hause gebracht, das gehörte sich einfach so.
    Die letzten Spaziergänge waren dann ein steter Abschied für immer. Ich sehe ihn vor mir, wenn er sich, zu Hause angekommen, noch einmal umdrehte und mich lange ansah.
    Es war eine innige, tiefe Freundschaft, die mein Leben bereichert hat. Ich hatte das große Glück, diesen Hund in einer Umgebung und unter Umständen kennenzulernen, in denen sich das übliche Herr-Hund-Verhältnis erübrigte. Und wahrscheinlich hätte ich auch nicht die notwendigen Qualitäten als Herrchen gehabt.
    Picasso wird das gewußt haben, aber er hat es nie ausgenutzt.
    Oder – besser gesagt – ich kam mir nie ausgenutzt vor.