Haben Sie auch wunde Punkte? Einer der meinen ist Roberto. Natürlich heißt Roberto nicht Roberto, sondern ganz anders, aber aus datenschutztechnischen Gründen lassen wir es mal dabei.
Dem energiegeladenen zweimaligen Klingeln am frühen Morgen konnte ich nicht entnehmen, dass es von Roberto kam. So klingelte sonst nur der Paketbote, für den ich immer die Sondermarken aus dem Posteingang beiseitelegte. Entgegen meiner Erwartung erschien dann aber Robertos Kopf im Geländerausschnitt und quälte sich in Zeitlupe mühevoll Stufe um Stufe höher.
Roberto trägt schwer an den Unbilden der ganzen Welt, die sämtlich sich SEINE Schultern zum Ruheplatz wählen. Jeder Schritt ist Willensakt, und kaum hat er einen Fuß gehoben, zieht ihn die Schwerkraft gnadenlos wieder zur Erde. Sein Gesicht zeichnet die Anstrengung nach, und wäre da nicht das Geländer, wer weiß, ob er es überhaupt schaffen würde. Die Ausdruckskraft seiner Augen strahlt einem sonst nur von sehr nützlichen Vierbeinern entgegen, die – glaubt man der Werbung – mit ihrem Erzeugnis müde Männer munter machen.
Bei mir reichte sein mitleidheischender Blick, mein Blut in Wallung zu bringen. Nichtsdestotrotz bat ich ihn in dienstbeflissenem Masochismus herein. Mit letzter Kraft erreichte er den rettenden Stuhl und ließ sich stöhnend darauf fallen, als sei auch dies Anstrengung. „Ich komm‘ grad‘ von der Arbeit“, ließ er mich wissen. Wieder buhlte sein Blick um Mitgefühl, während er vor mir kraftlos die viele Male ge- und entfalteten Papiere vom Vortag wie Herbstlaub auf den Schreibtisch niederflattern ließ.
Am Tag vorher war er mit zwei Problemen bei mir erschienen. Zum einen mit jenen Papieren, die auszufüllen ich ihm helfen sollte. Wie er mir erklärt hatte, hatte er endlich Arbeit gefunden, zwei Stunden am Tag, und dies waren die Einstellungsunterlagen. Ich fragte ihn, was er denn arbeite, und er antwortete mir, indem er sich pantomimisch die Stirn mit dem Handrücken trocknete: „Schnell-schnell!“. Er schaute bedeutungsschwer auf die Uhr: „Der Schef sagt immer schnell-schnell!“. Das schien ihn bei der Angelegenheit am meisten zu beeindrucken, widersprach es doch eklatant seiner Natur.
Gerade, als ich zum Stift griff, legte er einen Briefumschlag vor sich hin, der, wie sich herausstellte, sein zweites Problem enthielt: Das Arbeitsamt hatte ihm eine Stelle als Be- und Entlader von LKWs einer Getränkefirma vermittelt! Sie versuchten es immer wieder, zahlten ihm aber schon länger keine Unterstützung mehr, weil auch sie mit ihm so ihre Erfahrungen hatten.
Nun sollte ich bei der Firma anrufen, wie es mit einem Termin wäre. Zu seinem Entsetzen erfuhr er, dass er sich sofort vorstellen könne, bis 17 Uhr sei geöffnet. Da es bereits kurz nach vier Uhr war, gab ich ihm die Papiere für die Zwei-Stunden-Arbeit zurück – die könne man auch noch ausfüllen, wenn es mit der Arbeitsamts-Stelle nicht klappen würde – und riet ihm, sich zu beeilen.
Er ergab sich mit hängenden Schultern in sein Schicksal, nicht ohne den Hinweis auf den Ausspruch seiner Frau, dass das sowieso keinen Zweck habe, das Arbeitsamt habe schon Viele dort hingeschickt, auf IHN würde die Firma nicht warten. „Und meine Frau weiß das, die ist viel intelligenter als ich“, verkündete er mit einem triumphierenden Glitzern seiner Schokoladenguss-Augen. Trotzdem legte ich ihm nahe, es wenigstens zu versuchen, und langsam löst er sich von dem Stuhl. „Ich habe mein Fahrrad unten, ich fahr‘ schnell rüber.“ Noch schleppender wurde sein Schritt und er murmelte: „Getränkekisten sind schwer.“
Mich interessierte, was er unter „schnell“ verstand, und so bezähmte ich meine Neugierde nicht, aus dem Fenster zu sehen. Es dauerte lange, bis er die Distanz der einen Etage überwunden hatte, noch länger, zu seinem Fahrrad zu kommen, das ein Stückchen weiter angekettet war. Fünf Minuten fingerte er an der Kette, hievte sich dann auf den Sattel, stand immer noch mit dem linken Bein am Boden und schaute mit ausdruckslosem Gesicht in die Runde. Fast hätte ich ihn angefeuert. Endlich entschloss er sich, im Schlendertempo in die allerdings richtige Richtung loszufahren.
Das war gestern. Und heute saß er mir also wieder gegenüber und wollte, ich solle ihm die Unterlagen für die Zwei-Stunden-Arbeit ausfüllen wie schon viele Male vorher seine Bewerbungsunterlagen bei diversen Firmen, die ihn dann doch nicht oder nur kurzzeitig eingestellt hatten.
Bis zum Familienstand waren die Fragen einfach. Schwieriger wurde es schon bei dem Namen seiner Bank. Er wusste gerade noch, dass sie in seinem Stadtteil lag, aber wie sie hieß …? Und die Kontonummer? Natürlich hatte er wieder einmal das Kärtchen mit den Angaben nicht mit, seine Aufenthaltserlaubnis ebenfalls wieder vergessen. „Was die auch immer für Fragen stellen!“ empörte er sich und für den Bruchteil einer Sekunde kam so etwas wie Leben in seinen Blick. Ich sagte ihm, dann müsse eben wieder seine Tochter diese Fragen ausfüllen, sie sei ja intelligent mit ihren sieben Jahren und könne lesen. „Ich kann auch lesen!“ trumpfte er auf, „Da! Konto-enn-err!“
Er erinnerte sich nicht, wann und für wie lange in den letzten zwölf Monaten er bei welchen Firmen gearbeitet und wie viel Zeit davon er arbeitslos gewesen war. Die Monatsnamen flogen mir nur so um die Ohren, alle mit Fragezeichen: August? März? Februar? Oktober? Oder nein, doch wohl eher September, oder? Beim letzten Ausfüllen, das mich detektivische Kleinarbeit und 1 ½ Stunden Zeit gekostet hatte, von den Nerven nicht zu reden, hatte ich ihm von den Bewerbungsunterlagen eine Fotokopie mitgegeben „für das nächste Mal“ und eigentlich erwartet, er würde sie mitgebracht haben. Hatte er das alles in der einen Woche schon wieder vergessen? Er lehnte sich entspannt zurück und fragte mit verschmitztem Lächeln: „Sie haben doch auch Unterlagen?“
Wenn einem bei einem T-Shirt der Kragen platzen kann, dann war es genau das, was jetzt passierte. Ich sagte ihm, dass ich sehr wohl auch Unterlagen habe, dass es aber darum gar nicht gehe. „Es muss doch möglich sein“ hielt ich ihm mit dräuender Stimme vor, „sein eigenes Leben im Kopf zu haben. Sie wissen doch, dass ich diese Fragen stellen muss, da können Sie sich doch vorbereiten?! Wie ich MEIN Leben in MEINEM Kopf habe, den ich auf MEINEN Schultern trage, müssen doch SIE IHR Leben im Kopf haben!“ Er kicherte hinter vorgehaltener Hand und nickte eifrig.
„Wissen Sie,“ fuhr ich fort „wenn Sie ganz alleine wären, könnte es allen ganz egal sein, was Sie machen oder nicht machen. Aber Sie haben Familie, Sie haben eine Frau, die putzen geht, weil SIE nicht arbeiten, und Sie haben eine kleine Tochter, und Sie machen auch DEREN Leben kaputt. Denken Sie, Ihre Frau schwitzt nicht, wenn sie putzen geht!?“ „Ich schwitz‘ auch, zwei Stunden am Tag, immer schnell-schnell!“ konterte er.
„Ja“, sagte ich, „zwei Stunden am Tag. Und für wie lange? Bald fällt Ihnen auch da was ein, wie neulich in der Firma, in der Sie Flaschen einsortieren sollten. Aber nein, Sie könnten sich ja schneiden! Sie haben sich NICHT geschnitten, dazu war in der Dreiviertelstunde ja auch keine Zeit, aber Sie HÄTTEN sich schneiden KÖNNEN, man weiß ja nie!“ „Glas ist gefährlich, das hat meine Mutter immer gesagt“ warf er verständnissinnig ein. „Und die Firma, in der Sie einmal fünf Minuten länger arbeiten sollten? Das steht nicht in Ihrem Vertrag, haben Sie gesagt, und sind gegangen. Denken Sie, ein Arbeitgeber hat Freude an einem Arbeitnehmer, der sich immer neue Tricks einfallen lässt, damit er nicht arbeiten muss? Ich habe schon lange gemerkt, dass Sie keine Lust zur Arbeit haben. Dann sagen Sie das doch, bleiben Sie zuhause, tun Sie gar nichts, schicken Sie Ihre Frau zur Arbeit und wenn die Tochter groß ist, die auch noch.“
„Meine Frau hat Lust zur Arbeit, meine Tochter auch“, gab er zurück. „Für Rente bin ich noch zu jung, hat mein Arzt gesagt.“ „Ja, DAS wäre ein Leben, nicht wahr?!“ Mein Sarkasmus breitete ein schwärmerisches Grinsen über sein rundes Gesicht. „Vielleicht gehe ich wieder nach Hause zurück“ sagte er. Ich fuhr ihm in die Parade: „Wer hier keine Lust hat zur Arbeit, hat sie woanders auch nicht. Wer wirklich arbeiten will, findet Arbeit, egal, was für welche.“ „Stimmt!“ bestätigte er mich. „Was würden Sie denn zuhause machen?“ fragte ich. „Ich weiß nicht, bisschen im Garten, in der Natur.“ „Ja“ sagte ich, „nur nicht zu schwer. Ich habe gestern gehört, wie Sie gesagt haben „Getränkekisten sind schwer“.“
Angenehm überrascht sah er mir ins Gesicht. „Ich habe auch gesehen, wie Sie zu Ihrem Fahrrad gegangen sind und "ganz schnell" zu der Getränkefirma gefahren.“ Dabei imitierte ich das gestern Gesehene, während er geradezu in Entzücken verfiel. „Ach," sagte ich, „und Achtung, in Getränkekisten sind Flaschen und die sind aus Glas und Sie KÖNNTEN sich ja schneiden. Und wer weiß, vielleicht müssen Sie ja auch mal länger arbeiten.“ Er war total aus dem Häuschen, beugte sich vor und zurück und lachte herzhaft voller ehrlichem Vergnügen. Ich bat ihn, doch ein bisschen ernster an die Sache heranzugehen, aber er lachte ohne Ende.
Endlich gelang es ihm zu sprechen. Mit Verschwörermiene weihte er mich ein: „Sie erinnern mich an meine Frau. Die sagt das auch immer.“ „Und?“ fragte ich. „Die sagt auch,“ er lachte schon wieder aus voller Kehle und war plötzlich ganz fidel, „wenn ich keine Arbeit finde, lässt sie sich scheiden.“ „Da tut sie gut daran.“ entfuhr es mir. „Ja,“ zwinkerte er „aber eine Scheidung kostet Geld.“ Dazu rieb er Daumen und Zeigefinger der rechten Hand in internationaler Geste aneinander.
„Ja, und?“ fragte ich, „vielleicht schafft Ihre Frau es doch. Und was machen Sie dann?“ Er zuckte unberührt und nachlässig mit der Schulter und sagte im Aufstehen: „Dann such‘ ich mir ne andere Frau. Aber vielleicht klappt’s ja diesmal mit der Arbeit.“ Aus dem Treppenhaus hallte sein Gruß zu mir hoch: „Also dann, bis zum nächsten Mal!“
Können Sie verstehen, warum Roberto mein wunder Punkt ist?
© noé/1992 Alle Rechte bei der Autorin.