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I
Mein Name ist Rübe. – Rübe, der Träumer, werde ich in unserer Siedlung genannt. Ich bin jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, und wenn ich bei guter Gesundheit bleibe, was ich natürlich hoffe, habe ich vielleicht noch weitere zwanzig Jahre vor mir. Unsere Siedlung, sie ist fast so etwas wie ein riesiger Tuffstein, liegt etwa auf 50° nördlicher Breite und 6° östlicher Länge. Das Meer sei nicht weit entfernt, sagen einige.
Ja, Ich bin ein Träumer. Tagsüber, wenn ich schlafe, höre ich manchmal das Rauschen dieses Meeres, das ich noch nie gesehen habe, von dem ich nur weiß, daß es existiert, wo auch immer. Dieses Rauschen, in meiner Phantasie geht es über in rhythmisches Stampfen, in das heisere Kreischen metallverarbeitender Maschinen, das leiser wird und sich auflöst in elektronische Tonfolgen, die mich frösteln lassen. Wenn ich dann aufwache, weiß ich: Die Schleusen wurden geöffnet, um Trinkwasserbehälter und Reinigungsbecken zu füllen. Die trockene Jahreszeit bricht an, bald werden die Quellen für einige Monate versiegen. Die Nächte werden kürzer und damit auch der Aufenthalt im Freien.
Ich bin ein Träumer. Aber diese Geräusche, das Stampfen, das wütende Kreischen, das hat es einmal gegeben. Und diese eigenartigen Tonfolgen, das Summen, das aus der Vibration sich erhebt, ansteigt und sich schließlich in hohen Frequenzen der Wahrnehmung durch das Ohr entzieht, diese Geräuschkulissen einer Welt, die wohl für immer der Vergessenheit angehören wird... Vor acht Jahren etwa, erwachte sie noch einmal zum Leben. Vor acht Jahren erschreckte sie mich in der beklemmenden Atmosphäre der ehemaligen Industrieanlagen östlich unserer Siedlung wohl zum letzten Mal, als ich eine Solaranlage reaktivierte.
Diese meist unterirdischen Anlagen, in denen ich mich jetzt befinde und diese Zeilen schreibe, sind etwa drei Sommernächte von unserer Siedlung entfernt. Äußerlich nur an einigen Resten von Klimakuppeln und Filteranlagen erkennbar, überwuchert von den allgegenwärtigen graugrünen Flechten und hartem, dornigem Gestrüpp, hatte dieser Komplex schon bald meine Neugier geweckt und die Phantasie beflügelt. Auf dem Weg hierher bieten zahlreiche Höhlen Unterschlupf, Doch es bleibt gefährlich. Wer die Richtung verfehlt, läuft Gefahr, im ungewohnten Tageslicht zu erblinden. Doch als Zwölfjähriger war ich mir dieser und anderer Gefahren nicht bewußt. War es zunächst die Neugier, die mich durch die zufällig entdeckten Hallen und Gänge, vorbei an Steuereinheiten, Labors und produktionstechnischen Anlagen trieb, so änderte sich das doch bald. Elektrizität hieß das Zauberwort, war das Phänomen, dem ich auf die Spur kommen wollte. Wochen, Monate hatte ich in unserer Bibliothek verbracht, las, verglich, las nächtelang. Doch immer, wenn ich meinte zu begreifen, stand ich vor einem größeren Geheimnis.
“Waren die Menschen damals um so vieles schlauer?” fragte ich meinen Lehrer.
“Nein, ich glaube nicht”, entgegnete er nach kurzem Zögern. “Sie haben nur weniger gefragt.”
Ich habe lange über diese Antwort nachgedacht. Und ich beschloß, die Elektrizität zu suchen, hier, an diesem Ort, wo sie einmal war. Als ich dann – eher versehentlich als bewußt – die Solarstromversorgung in einem Teilbereich aktivierte, war das ein Schock für mich. Die unerwartet einsetzenden elektromagnetischen Abläufe versetzten mich in Angst und Schrecken. Schließlich rannte ich, geblendet von Leuchtdioden und Skalen, hinaus in die Nacht. Wenig später beendete ein paffender Knall das unheimliche Schauspiel. Am ganzen Körper zitternd und mit zerkratzten Beinen hockte ich unter einem Felsen; ein unbekannter, stechender Geruch zog mir in die Nase.
Das war meine erste Bekanntschaft mit der Elektrizität. Und wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß ich hier einmal sitzen würde, um diese Zeilen zu schreiben...
Jahre sollten vergehen, bis mich die Neugier, der Wunsch mehr zu erfahren, tatsächlich zurücktrieb. Was ich erfahren wollte? Ich weiß es nicht. Theoretisch sind uns die Abläufe bekannt, die vor etwa vierhundert Jahren im Chaos endeten. Klimakatastrophe, gefährliche UV-Strahlung bestimmen noch heute alles Leben auf der Erde; ein Albtraum, der Wirklichkeit wurde. Doch was in den Köpfen der Menschen damals vorging, ob sie sich dessen bewußt waren, was sie in die Katastrophe trieb, blieb uns verborgen. Die überlieferten Textpassagen zum Thema erschöpfen sich in pharisäerhaftem Geschwätz und gegenseitigen Schuldzuweisungen. Gedanken ließen sich wohl auch im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung nicht aufzeichnen, und wenn doch, sollte es solche Bänder geben, dann wären sie für uns nicht lesbar.
Spurensuche also? Aber welche Spuren? Fragen über Fragen. Und ich dachte wieder an die rätselhafte Antwort meines Lehrers: “Sie haben nur weniger gefragt.” Vielleicht, weil sie meinten, alle Antworten zu wissen? War es das, woran sie zugrunde gingen?
Einige hundert Meter von der Stelle entfernt, an der ich meine erste Bekanntschaft mit der Elektrizität machte, befindet sich ein Gebäudekomplex, der teilweise oberirdisch angelegt wurde. Er unterscheidet sich erheblich von den umgebenden Bauten, vom Stil her fast museal. Und die Reste einer offenbar später konstruierten Klimakuppel lassen vermuten, daß er aus einer Zeit stammt, in der die Luft noch ungefiltert geatmet werden konnte. Was genau mich bewog, teilweise unter Lebensgefahr durch die fast vollständig von der Natur zurückeroberten Reste einer Industrieanlage zu streifen, kann ich nicht sagen. Tatsächlich war es wohl zu Beginn eher eine ziellose Suche nach etwas, von dem ich keine Vorstellung hatte. War es die Andersartigkeit dieses Teils der Anlage? War es die Hoffnung, in dieser Andersartigkeit den Schlüssel zu finden? Immer wieder zog es mich an diesen Ort, nahm ich den gefahrvollen Weg auf mich, wich den Fragen der anderen aus, denn was hätte ich ihnen antworten sollen. Nicht selten verbrachte ich mehrere Tage hintereinander in der mit Ruinen durchsetzten Wildnis, bis ich schließlich etwas entdeckte, das, wie ich jetzt weiß, endgültig die Weichen stellte und meiner eher von Zufällen geleiteten Suche eine klare Richtung gab. Was ich fand, das war so weit entfernt von dem, was ich zu finden hoffte, daß es mir fast den Atem raubte. Doch was es mir eröffnete, das lag völlig außerhalb meiner Vorstellungen: Ein kleines Observatorium mit einem installierten Teleskop, welches wohl schon vor vierhundert Jahren eine Antiquität war, und vielleicht eben wegen seiner einfachen Bauart die Zeiten überdauert hatte. Das Öffnen und Instandsetzen der völlig zugewachsenen Drehkuppel nahm dann allerdings Monate in Anspruch.