Seit ich mit fünf Jahren mir durch eine rätselratende Oma selber das Lesen beigebracht hatte - zuerst nur Bilderstreifen in der Zeitung, dann Comic-Hefte, Kinderbücher und -lexika, bis hin zur „richtigen“ Literatur -, habe ich alles Gedruckte nur so verschlungen. Überall war bekannt, dass Lesen einen großen Raum einnahm in meinem Leben. Wenn jemand seine Bücher abgeben wollte, wurde zuerst ich gefragt und so mancher hat sich ein anderweitiges Entsorgen seiner gebundenen Druckwerke auf diese Weise gespart.
Die beiden älteren Damen, die in der Wohnung über der meiner Eltern wohnten, und die mir schon eine Originalausgabe Körner geschenkt hatten, die ich in ehrfürchtiger Hochachtung hielt, bis meine kleine Schwester sie für 5 DM an einen An- und Verkauf verhökerte, damit sie für sich und unseren noch kleineren Bruder je ein Eis kaufen konnte (das müssen große Eisportionen gewesen sein, damals!), diese beiden Damen also zogen aus. Und ich hatte freie Auswahl unter ihren Büchern, bis meine Mutter abwinkte, weil schon der Keller „voll“ sei.
In einem dieser Bücher erzählte ein Klinikchef von seinem Schaffen. Und er verstand etwas davon, zumindest vom Schreiben! Eine der Geschichten aus seinem Buch – das ich nach etlichen Ortswechseln und Umzügen inzwischen leider nicht mehr besitze und dessen Titel mir sogar entfallen ist – hat mich derart nachhaltig beeindruckt, dass sie mich über die Jahrzehnte nicht losgelassen hat.
Innerhalb dieser seiner Fallgeschichte ging es auch bei ihm um eine dadurch hervorgerufene Erinnerung an eine Legende, die er einstmals gelesen hatte und die ihm bei diesem Fall wieder leuchtend vor Augen stand.
Und es war diese Legende, die mich über die Jahrzehnte fesselte.
In seiner Fallbeschreibung ging es um einen Mann mit einem unfallbedingten Gehirntrauma – wenn ich mich recht erinnere –, der in seine Klinik eingeliefert worden war und der eigentlich der absoluten Ruhe bedurft hätte.
Doch jeden Tag besuchten ihn zwei Herren in feinen Anzügen und mit Aktentaschen in seinem Krankenzimmer und jeden Tag hinterließen sie ihn in immer geschwächterem Zustand, wenn sie ihn nach Stunden verließen. So jedenfalls berichtete sein Pflegepersonal das dem Arzt, der sich darüber wunderte, dass der Zustand seines Patienten sich trotz der umsorgenden Behandlung so gar nicht bessern wollte, sondern ihn, im Gegenteil, täglich sogar schwächer werdend scheinen ließ.
So hinterließ der Arzt beim Personal seiner Privatstation, dass er beim nächsten Erscheinen der beiden Herren gerufen werden wolle.
Als er das Krankenzimmer betrat, sah er, wie die beiden Anzugträger – einer rechts vom Bett des armen Unfallopfers, einer links davon -, auf den Wehrlosen einredeten, während dieser sich mit Papieren abmühte, die auf der Bettdecke ausgebreitet vor ihm lagen. Er hatte keinen Blick für die Anwesenden, sondern war rein auf die Schriftstücke konzentriert, einen Stift in der Hand.
Der Klinikchef verwies als Hausherr und verantwortlicher Arzt die beiden anscheinenden Schmarotzer nicht nur des Zimmers, sondern sogar des Hauses, als diese sich uneinsichtig zeigten.
Wie es sich darstellte, waren das zwei Herren aus der Chefetage des Konzerns, dem das Unfallopfer als Chemiker in einer Schlüsselstellung angehörte (wie gesagt, wenn ich mich recht an die Details erinnere) und die ihm diese teure Privatpatienten-Behandlung auf Kosten ihrer Firma zuteilwerden ließen. Und sie waren sehr besorgt darum, an alle die Geheimnisse zu kommen, die im Gehirn des Kranken – und nur dort, wohl aus Sicherheitsgründen – abgelegt waren, solange dies ihnen noch möglich schien. Offensichtlich rechneten sie nicht wirklich damit, dass er genesen könne.
Ich erinnere nicht mehr, wie die Geschichte des armen Unfallopfers ausgegangen ist, ob es gesundet die Klinik verlassen konnte oder ob es – ausgelaugt – verstarb. Als Erzählerin neige ich der zweiten Version zu.
Was mich nicht losließ, war die eingangs erwähnte Legende, die ich – sogar in der längeren Version – durch meine Internetrecherche endlich wiedergefunden habe! Und da sie mich so nachhaltig beeindruckt hat, möchte ich meinen Lesern hier die Möglichkeit geben, sich vielleicht ebenso ergreifen zu lassen. Wer das möchte und – hoffentlich – über einen Internetzugang verfügt, dem gebe ich sehr gerne diesen Link weiter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/-2829/17
Wer diese Möglichkeit nicht hat, aber die Legende dennoch lesen möchte, kann sich vielleicht in der Buchhandlung seines Vertrauens danach erkundigen. Der Verfasser ist Alphonse Daudet, die Legende entstammt seinem Werk „Briefe aus meiner Mühle“ und trägt – unter dem Kapitel 17 – dort den Namen „Die Legende vom Manne mit dem goldnen Gehirn“.
© noé/2015 Alle Rechte bei der Autorin
Liebe Leser:
Wenn ihr die Geschichte lesen wollt und dazu den im Text angegebenen Link in die URL-Zeile kopiert, kopiert ihr auch die Quelle mit - dann KANN der Link nicht mehr funktionieren. Also müsstet ihr aus der URL-Zeile alles rauslöschen, was NACH der "17" kommt. Dann klappts auch mit dem ... Link.