Wenn das Wichtigste fehlt

Bild von Anita Zöhrer
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Eine tiefe Narbe zeichnet sein Gesicht. Vorsichtig streiche ich ihm mit meinen Fingern darüber. Was ihm zugestoßen ist, kann ich mir denken. Darüber sprechen will er jedoch nicht.

Ich verbringe die Nacht bei ihm an einer verborgenen Stelle am Ufer des Flusses. Seit Jahren lebt er hier, doch erst heute ist er mir bei einem Spaziergang aufgefallen. Nicht gerne zeige er sich den Leuten, hat er mir verraten. Für das, was früher einst geschehen ist, schämt er sich.

Weit unter Null Grad fallen die Temperaturen. Ich kuschle mich zu ihm unter die Decke. Sternenklar ist der Himmel; kein Auge tue ich zu. Viel zu lange schon habe ich mir nicht mehr die Zeit dazu genommen, einfach nur nach oben zu blicken und das Funkeln der Sterne zu genießen.

Das Licht des Vollmondes scheint auf uns herab; wach liegt auch er neben mir. Wir betrachten uns gegenseitig; trotz seines verwahrlosten Äußeren ist er ein hübscher Mann. Noch nicht einmal seine auffällige Narbe stört mich an ihm; vielmehr gehört sie zu ihm, so wie ich es tue.

Unsere Lippen berühren sich. Zweifel überkommen ihn; er weicht vor mir zurück. Er könne mir nichts bieten, bedauert er. Weder ein Dach über den Kopf noch Sonstiges. Doch was nützen einem schon materielle Dinge, wenn das Wichtigste fehlt? Nicht mehr als das, was er geben kann, wünsche ich mir von ihm, und das ist mehr, als jemand sich ersehnen kann.

Polizisten wecken uns am nächsten Morgen. Einen Haftbefehl haben sie gegen meinen Freund; ich weigere mich, ihn gehen zu lassen. Der Verdacht auf Mord bestünde gegen ihn, erklärt mir einer der Polizisten, mein Freund schweigt. Was auch immer passiert sein mag, so zärtlich wie er letzte Nacht zu mir gewesen ist, ist er alles nur kein Mörder. Trotzdem kann ich es nicht verhindern, dass die Polizisten ihn mit auf die Wache nehmen.

Quer durch die Stadt laufe ich mit tausend Fragen im Kopf. Außer Atem stürme ich ins Büro der Polizisten und verlange, unverzüglich zu meinem Freund gelassen zu werden. Die Polizisten werfen mich jedoch hinaus und sperren hinter sich ab. Ich tobe, schlage mit den Fäusten gegen die Tür und schreie, aber es ist zwecklos. Obwohl ich seine Freundin bin, darf ich nicht zu ihm.

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