Damals, als ich aus dem warmen Leib der Mutter in die Wirklichkeit eines kalten Januartages versetzt wurde, begann der zweite Teil der Mutter, mit den - nun fünf - Kindern durch die Kriegswirren zu irren. Fünf Jahre irrte sie - von Rumänien nach Deutschland, durch Bayern, durch Polen und die schlimmste (Flucht-)Strecke zurück nach Bayern. Sie war allein mit ihren fünf kleinen Kindern (0,5 bis 9 Jahre alt), ohne ihren Mann, er war in dieser Chaosnacht am 18. 01. 1945 nicht bei seiner Familie, hatte Wache außerhalb des Lagers.
Anfang Mai war der Krieg zu Ende! Sie hat es geschafft, kein Kind hat sie auf dem Irrweg verloren.
Hier begann, nach zwei weiteren Jahren, mein bewusstes Leben, das erste von sieben. Ich war vier Jahre alt.
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Mein erstes Leben war eine glückliche Kindheit
in dem Bauerndorf Segringen in Mittelfranken, eine Bauernidylle, ein Heimatfilmklischee, eine Kuhweide umrahmt von Tannen.
Ein Lied möcht ich ihm singen -
dem Bauerndorf Segringen.
Das Dorf, gleich nach dem Kriege,
war meiner Kindheit Wiege.
Es hatte Menschen, die mir gaben,
was Kinder gerne haben.
Sie gaben Freiheit mir auf Wiesen
und Tannenbäumen, Riesen.
Sie gaben Arbeit mir und Essen -
nie werd ich dies vergessen.
Vom Bauerndorf Segringen
- von dir vor allen Dingen -
will träumen ich und singen.
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Mein zweites Leben war eine durchwachsene Jugend in Düsseldorf,
ein Spiel in den Ruinen, ein Leben mit Freunden und eine Suche nach etwas, von dem ich nicht wusste, was es sein konnte.
Mein unterschätztes Oberbilk,
du warst mal mein zu Haus.
In Konkurrenz zu Segringen*
sahst du so gut nicht aus.
Sie war nicht leicht die Umstellzeit,
der Unterschied zu krass.
Nach Jahren erst war ich bereit,
hatt' bei und mit dir Spaß.
Als junger Mann verließ ich dich,
die Jugendliebe auch.
Ein neues Land umgarnte mich,
ich nichts zu reuen brauch.
Du wirst, mein liebes Oberbilk,
in meinem Herz stets sein.
Du lachst mich an, schau ich zurück
nach Düsseldorf am Rhein.
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Mein drittes Leben war eine berufsbedingte Wanderung
durch das Land, ein Abschied von der Zwischenstation Düsseldorf, ein abendlicher Wirtshausbesuch in verschiedenen Orten mit anderen wandernden Kollegen, eine Suche nach der Liebe.
In Hamburg sowie Rosenheim,
Biblis, Worms und Krottenmühl
war ich fremd und doch daheim,
in Erlangen noch jung, nicht zahm,
in Ravensburg die Liebe kam,
das erste Heim war Königstein -
danach ein gutes Land mich nahm.
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Mein viertes Leben ist ein freundliches Schicksal,
eine Hoffnung, die sich erfüllte, ein Land, das es gut mit mir meint, eine Zeit, die sich Zeit lässt für Stille und frohe Gedanken.
Det fanns en tid då livet mig ej kysste
då mörka skuggor gav mig ingen ro
då jag vad framtid är just inget visste -
men redan då fanns mellan oss en bro.
Det kom en maj då blommorna oss kysste
då själen min fick anledning att tro
att livet det från första början visste
att denna maj blir början för oss två.
*
Der Mensch macht seinen Einzug
ins Leben als ein Kind.
Ein lebenslanger Umzug
des Menschen Tage sind.
Am Ende kommt der Auszug,
wohin ist unbestimmt -
vielleicht ein neuer Umzug
dort seinen Anfang nimmt.
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Mein fünftes Leben war ein Vogel im Himmel,
der mich mitnahm, mir die Schönheiten des Landes von oben zeigte, mich steuern ließ, weil dies mich erfreute, der still das Lied der weißen Wolken sang und sich mit einem Freund zu Tode stürzte.
Es war nicht Abenteuerspielen,
das mich zum Segelfliegen brachte,
nicht das Sich-Abgehobenfühlen,
auch nicht der Drang zu hohen Zielen,
was mich zum Segelflieger machte.
Es war die hohe, weite Stille,
das stete Kreisen, Aufwärtssteigen,
der Ganz-dort-oben-bleiben-Wille,
die Himmel-Wolken-Farbenfülle
beim abendlichen Heimwärtsgleiten.
Es war das Mit-den-Wolken-ziehen,
das Glücksgefühl, wie sie zu schweben,
der Lüfte Freiheit selbst zu spüren,
der Erdenschwere zu entfliehen...
Es war die Freude an dem Leben.
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Mein sechstes Leben war eine nicht erträumte Verwandlung
meiner Seele, meines Herzens, meines Daseins, ein Jahr in einem fernen, warmen Land mit nie erahnten Erlebnissen an Plätzen und Orten bei freundlichen Menschen, in deren Häusern wir leben durften, zu Hause waren.
Plötzlich war ich dreiundsechzig,
plötzlich war ich wieder jung.
Plötzlich wollte ich verreisen,
plötzlich war ich auf dem Sprung.
Ich trug ein Kleinkind auf dem Arm
am abendroten Uluru.
Ich sprach auf einer Rinderfarm
zu einem wilden Känguru.
Plötzlich sahen meine Augen,
was ungesehen vor mir lag.
Plötzlich konnte ich es glauben,
dass irgendwas ich in mir trag.
Zuhause seh ich wieder Farben,
wie auf dem Dorf als kleines Kind.
Ich les' mit Sorgen, dass sie starben,
Menschen, die bekannt mir sind.
Endlich gingen meine Augen auf,
endlich ist mein Geist im Spiel:
"Das Leben ist ein Dauerlauf
mit unbekanntem Ziel."
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Mein siebtes (letztes?) Leben ist ein lustvolles Denken und Schreiben
nach jenem Zuruf des Meeres in diesem fernen Land, es ist das Dankesagen nach dem nächtlichen Schlüsselerlebnis in einem Kinderzimmer auf einer Insel mit dem Namen Tasmanien. Es ist der Versuch, die gelebten Leben mit Worten zu beschreiben, von denen ich es 70 Jahre lang nie erhofft habe, dass sie mir doch gegeben werden mögen.
"Ich schreibe nicht Gedichte,
ich schreibe auf Gedanken.
Ich schreibe und berichte
und will mich so bedanken,
dass man es mir gegeben,
dass ich doch denken mag,
was ich - so ist das Leben -
nicht auszusprechen wag."
*
Ich schreib von meiner Kindheit
in einem Dorfidyll,
und denke an die Blindheit,
die uns beherrschen will.
Ich denke an die Weisheit
jetzt gern als alter Mann,
und schreibe von der Schönheit,
so gut, so schön ich kann.
Ich schreibe von der Liebe,
von Überfluss und Not,
und denk was von mir bliebe,
wenn ich einmal bin tot.
Ich schreibe gern von Bäumen,
von Enten auf dem See.
Ich denk in meinen Träumen,
was ich am Tag nicht seh.
Ich denk an Mond und Sterne,
die Erde, die Natur.
Ich schreibe aus der Ferne -
von Heimweh nicht die Spur.
Ich gerne mich auch stehle
nach unten, himmelwärts
und schreibe mit der Seele
sowie mit meinem Herz.
Ich schreib, wie ich mich fühle:
Mal schlechter, manchmal gut.
Doch brauche ich Gefühle
und auch ein bisschen Mut.
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© Willi Grigor, 2020