Zinnsoldaten

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von Daniel G. Spieker

Malte konnte sich noch gut an die Zeit bei seinen Großeltern erinnern. Jedes Jahr war er dort ein paar Wochen mit seinen Eltern, später auch allein. Opa Konrad und Oma Maria. Beide hatten nach dem großen Krieg, wie Großvater immer zum zweiten Weltkrieg sagte, eine kleine Farm am Rande eines Dorfes in Sachsen aufgebaut und lebten von ihren Erzeugnissen und einer kleinen Rente, die Großmutter bei ihrer Arbeit bei einer Firma namens Godhot Services verdient hatte.
Eine Leidenschaft von Großvater Konrad war es immer gewesen, kleine Zinnsoldaten zu sammeln. Er sprach dann immer von seiner kleinen Truppe. Der Krieg war bis zu seinem Lebensende ein Teil von ihm gewesen; er sprach oft davon, wenn Malte und er alleine waren, denn weder die Eltern von Malte noch Großmutter Maria mochten es gerne, wenn er mit dem kleinen Kind über den Krieg sprach.
Eine Geschichte war Malte am besten in Erinnerung geblieben, die Geschichte wie Großvater Konrad auf einem Ohr taub geworden war. Er war in den Ruinen einer russischen Stadt stationiert gewesen und musste mit seinen Kameraden die Stadt von russischen Soldaten befreien.
Sie streiften durch die Stadt und plötzlich hörten sie Schüsse, ein Kamerad wurde getroffen und eilig rannten sie in die Ruine eines alten Hauses.
Die Sekunden sollen wie Stunden vergangen sein, als plötzlich eine Granate in das Haus geworfen wurde und nur durch einen glücklichen Zufall, vielleicht einer göttlichen Fügung war er nicht verletzt worden. Doch viele seine Kameraden waren direkt tot oder starben an den Verletzungen. Großvater Konrad hatte infolgedessen desertiert und war zurück nach Deutschland geflohen.
Natürlich gab es nicht nur diese Geschichten, Malte ging mit seinem Großvater auch oft wandern oder spielte mit ihm mit Brettspiele. Doch die liebsten Erinnerungen waren wohl, als der Großvater beim Kaminfeuer vom Krieg erzählte, von einer so weit entfernten, irrealen Welt, die in ihrer Form gleichzeitig abscheulich und faszinierend war.
Infolgedessen spielte Malte am liebsten mit den Zinnsoldaten, allerdings nur heimlich, denn sein Großvater, wollte nicht, dass man mit diesen spielt. „Spiel nicht mit den Figuren, sie sind sehr wertvoll.“ Großvater hatte es immer wieder verboten, doch Malte, angetrieben durch die Geschichten und vielleicht auch aus dem Reiz des Verbotenen, spielte trotzdem mit ihnen, meist in den Zeiten, wenn Großvater gerade einkaufen war und Großmutter in der Küche das Abendessen zubereitete.
Bis heute wusste er nicht genau, ob es Großmutter wusste oder nicht, zumindest hatte sie nie etwas dazu gesagt. Mit den Zinnsoldaten verband Malte aber nicht nur gute Erinnerungen.

Eines der 16 Zinnmännchen zerbrach irgendwann beim heimlichen Spiel und um der Strafe zu entgehen, versteckte es Malte unter einer Schale. Großvater bemerkte allerdings schnell, dass eine Figur fehlte und – niemand wusste genau wie er es schaffte – fand sie auch recht schnell und stellte Malte zur Rede. Er schrie ihn wütend an und man hatte das Gefühl, dass er verzweifelte, während Großmutter handlungsunfähig daneben stand.
Irgendwann kippte seine Wut vollkommen in Verzweiflung und Malte hatte zum ersten Mal seinen Großvater weinen gesehen.
„Ich hätte sie besser beschützen müssen, unbedingt besser beschützen müssen“, sagte der Großvater immer wieder und ging aus dem Zimmer. „Er meint es nicht so Malte, er meint es nicht so; er ist nur gerade wütend, aber er wird sich wieder beruhigen“, sagte die Großmutter zu Malte und dann noch: „Geh in den Garten, ich werde mit Opa sprechen.“
Nach dem Vorfall hatte Malte auch nicht mehr mit den Figuren gespielt. Wenige Jahre später starb Großmutter, als Malte gerade 18 geworden war und Großvater kam bald darauf in ein Altersheim.
„Kümmer dich gut um die Figuren, schütze sie, ich kann es nicht mehr“, sagte er damals und Malte hatte infolgedessen die Figuren oben auf den Schrank in sein Zimmer gestellt, ein besonderer Platz, dass bis auf Staub die Figuren nichts beschädigen könnte. Vielleicht auch um sie ein wenig von sich selbst zu trennen und sie nicht immer betrachten und an den Vorfall denken zu müssen.
Nur wenige Wochen nachdem Malte die Figuren erhalten hatte, ereilte ihn ein Anruf aus dem Altersheim: „Es tut mir sehr leid, ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Großvater gestern gegen 22 Uhr an einem Herzinfarkt gestorben ist“, sagte der Mann am Apparat und damit war das Leben von Maltes Großvater beendet. Er machte sich lange Vorwürfe, da er ihn viel zu selten besucht hatte, gemischt mit einer Trauer sich nicht richtig verabschiedet zu haben.
Nachdem sein Großvater starb, bekam Malte vieles von ihm. Fotoalben, Bücher, diverse Dinge, die er gesammelt hatte. Es war eine ganze Menge und füllte mehrere Kartons, sodass Malte nie wirklich dazu kam alles durchzusehen.
Mit der Zeit staubten sie ein und aus dem anfänglichen Gedanken, sie irgendwann anzusehen, bildete sich eine Koexistenz des Gefühls, dass es unwichtig wäre, unnötig Platz wegnahm und gleichzeitig, dass man es aus Nostalgiegründen nicht wegwerfen sollte.
Es war einfach kein direkter Bezug dazu da; nur die Zinnsoldaten standen jahrelang auf dem Schrank im Zimmer und wurden ab und zu entstaubt.
Vielleicht auch weil in den Minuten, in denen sich kein richtiger Gedanke formen wollte, die lebhafte Erinnerung an die Szene, an die Tränen und die Verzweiflung seines Großvaters aufkeimte. Daraus bildete sich zumindest eine Grundhaltung, sie nicht vollkommen verschimmeln zu lassen.
Doch auch diese Erinnerung verwässerte sich mit den Jahren und als er während seines Studiums mit seiner Freundin zusammenzog, verpackte er sie mit den anderen Sachen in seinen Schrank. Larissa, seine Freundin, stieg schnell in ihrer Arbeit auf und Malte hatte sein Studium gerade beendet, sodass es zu einem immer stärker werdenden Bedürfnis wurde, eine größere Wohnung zu beziehen.
So wurden Umzugshelfer bestellt und Sachen verpackt. Eine grundsätzliche Faulheit, wichtige Termine und ein allgemeiner Stress sorgten dafür, dass nur die großen Sachen verpackt waren und einzelne Dinge fehlten und dringend noch verstaut werden mussten.
„Die Umzugsleute verspäten sich aber ganz schön“, sagte Larissa kopfschüttelnd. Malte erwiderte, dass es erst fünfzehn Minuten wären. „Trotzdem... naja; ich geh schon mal die Vasen vom Dachboden verpacken; dann dauert das Ganze nicht so lange.“ Malte nickte. „Denk bitte an die Sachen von deinem Großvater im Schrank; schau nach was zerbrechlich ist und was man so einpacken kann.“
Müde raffte sich Malte auf, lief zum Schrank und steckte die Sachen seines Großvaters in verschiedene Kartons, packte ein paar der wertvolleren, zerbrechlicheren Sachen auf den Tisch, die er dann feinsäuberlich verpackte. Kurze Zeit später kamen auch die Leute von der Umzugsfirma; zwei hagere Männer jüngeren Alters, die die Sachen zusammenpackten und ordentlich in dem Umzugswagen verstauten und mit diversen Halterungen sicherten. Der Umzugswagen fuhr Larissa und Malte hinterher und rund zwei Stunden später waren sie angekommen. Larissa ging schon in das Haus, um aufzuschließen und Malte kramte noch im Handschuhfach des Autos, als er draußen einen der Umzugsmänner fluchen hörte. Er stand auf und ging raus, hinter den Umzugswagen und dann sah er was passiert war: Der Karton in dem die Figuren und einige andere Dinge aufbewahrt wurden, war runtergefallen und die Figuren lagen nur noch in Teilen auf dem Boden des Wagens herum. Zersplittert, zerstört, zerfetzt.
„Es tut mir wirklich leid um ihre Figuren. Ich hoffe, dass man sie irgendwie wieder reparieren kann“, sagte der eine Umzugshelfer, während der andere direkt nachschob: „Ich denke die Halterung muss sich gelöst haben, den Schaden wird natürlich die Firma übernehmen.“
Malte war verärgert, natürlich, aber nicht so sehr, wie er es noch vor einigen Jahren gewesen wäre. Die Figuren und auch sein Großvater hatten mittlerweile an Bedeutung verloren, trotzdem betrachtete er die Teile genau. Er sah Gesichter und Körper, die Bruchstellen und überlegte ganz automatisch wie man sie wieder zusammensetzen, reparieren könnte. Schweigend packte er die Figuren in eine Schale und brachte sie herein; er würde sich die Tage darum kümmern.
Die Umzugsleute verrichteten ihre Arbeit und gingen danach; man würde Larissa und Malte die Tage kontaktieren wegen dem Schaden.
Die nächsten Tage´verbrachten die beiden mit dem Einrichten der Wohnung. Große Bücherregale wurden aufgestellt, um dem ehemaligen Studentendasein endlich eine Ordnung zu geben und Larissa bestand darauf, dass Malte endlich die Sachen von seinem Großvater einordnen sollte.
Er folgte wie üblich und sah die Sachen auf dem Sofa durch, während Larissa gedankenverloren am Tisch ihre „Blue Lady“ Zigaretten rauchte. Malte packte viele Dinge zum ersten Mal aus, eine unveröffentlichte Sammlung von Aphorismen zum Beispiel. Und irgendwann auch ein Fotoalbum. Fotos von der Hochzeit mit Großmutter, die Geburt von Malte selbst und anderes. Doch als er in den hinteren Teil des Fotoalbums blätterte, erschrak er, verstand und brach in Tränen aus.
„Malte, was ist denn; was ist denn los?“, fragte Larissa, als sie die ersten Tränen über das zitternde Gesicht von Malte laufen sah und ging zu ihm.
Vor Malte war ein Foto mit 17 Männern, vor einer Kaserne. Er hatte die Gesichter schon einmal gesehen. Er ging zu der Schale und durchsuchte die Zinnsoldaten und dann sah er es. Jedes der Gesichter gehörte zu einer Figur, doch das seltsamste war, dass eine Figur hinzugekommen zu sein schien; es war eine Figur mehr als früher, nicht mehr 16, sondern 17 Figuren nun. Malte fixierte das Gesicht des kleinen Zinnsoldaten und erkannte: Das junge Gesicht seines Großvaters war Teil der Zinnsoldatentruppe geworden.

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Hörbuchversion von Zinnsoldaten
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