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Eine Kindheit in Berlin - 1944 bis 1945

Erster Luftangriff in Magdeburg. Bis ans Ende meiner Tage werde ich das Sirenengeheul und das scheppernde Echo der Bombendetonationen im Ohr haben. Ein Kellerfenster ging zum Hinterhof, und der verstärkte den Schall wie ein riesiger Trichter. Doch da ist noch eine andere Begebenheit, eng verbunden mit dieser ersten Kriegserfahrung, und es hat schon seine Gründe, wenn mir die Situation zum Greifen nah ist: Der lang anhaltende Heulton, das Zeichen für Entwarnung, ist verhallt, ihr steigt erleichtert die Stufen zur Wohnung im zweiten Stock hinauf. Plötzlich ruft Omi aus dem hintersten Zimmer, das zum Hof hinausgeht und früher Onkel Werners Schlafzimmer war: „Schaut mal her, Kinder!“ Neugierig drängt ihr, Opa, Mutti und du, in das kleine Zimmer. Auf dem Boden liegt ein zerbrochenes Glas mit eingemachter Marmelade. Offenbar hatte der Luftdruck das Fenster aufgestoßen, wodurch das Glas, das auf der Fensterbank stand, zu Boden fiel. Ich sehe es vor mir, und ich frage mich, warum ich mich so genau an diese Nebensächlichkeit erinnere. Es ist die Absurdität der Situation: Ein Marmeladenglas fällt nicht einfach vom Fensterbord. Es sei denn, jemand hat es angestoßen. Jemand, nicht etwas. Du, zum Beispiel. Und folglich hat es jemanden zu geben, der schuld ist, der ausgeschimpft wird. Du, zum Beispiel. Aber die Erwachsenen lachen in einem Gemisch aus Nervosität und Erleichterung. Da paßt etwas nicht, ganz und gar nicht. Nennen wir es das ‚Marmeladenglas-Syndrom‘. Einverstanden?
Nun, bei deinem letzten Besuch in Magdeburg, es ist Weihnachten 1944, irritieren dich keine heruntergefallenen Marmeladengläser mehr. Sirenengeheul und Luftangriffe, der Blick auf brennende Häuser und Ruinenfelder, das alles gehört längst zum normalen Tagesablauf. Auch dieses Weihnachtsfest wird mit Christbäumen gefeiert. Aber sie stehen nicht in den Zimmern. Sie hängen am Himmel, und gefeiert wird im Keller. Auf dem Weg zum Bahnhof leuchtet der Horizont in einem dekorativen Rot, während der von Brandbomben getroffene Turm der Katharinenkirche mit seinen rotglühenden Eisenträgern und aus dem Turminnern schlagenden Flammen an einen überdimensionalen Spirituskocher erinnert. Ein wahrhaft ‚Christliches Symbol‘, es wäre fernsehreif gewesen.
Vierzehn Tage nach eurem Weihnachtsbesuch in Magdeburg, stirbt Omi in den Trümmern. Die Wallstraße ist real nicht mehr vorhanden, die ganze Innenstadt ist ein Trümmerfeld, so weit das Auge reicht. Tagelang sucht Opa in der zerstörten Stadt nach seiner Frau, wühlt in Namenslisten, reißt Särge auf, versucht Nachbarn, Freunde zu finden, die ihm etwas sagen können. Nach diesem sechzehnten Januar 1945 kehrt er nie mehr ganz in die Wirklichkeit zurück und stirbt zwei Jahre später in Burg an einer Gasvergiftung. In seiner provisorischen Werkstatt hatte er abends vergessen, den Lötbrenner zuzudrehen, nachdem die Gasversorgung während der Nachtzeit eingestellt wurde. Am nächsten Morgen strömt das Gas mit frischer Kraft aus dem Hahn. Als man Opa findet, liegt er, einen Strumpf angezogen, den anderen noch in der Hand, auf seinem Bett.
In den letzten Kriegswochen in Berlin reduziert sich dein Lebensraum auf den Keller des Hauses Emser Straße 58, denn die hygienischen Zustände im Großbunker unter der Hermannstraße, eigentlich ein nicht fertiggestellter U-Bahnhof, sind unbeschreiblich. Außerdem befürchtet Mutti – zu Recht, wie sich später zeigen soll – den Ausbruch einer Panik beim Einmarsch der russischen Soldaten. Inzwischen ist Berlin von der Roten Armee eingeschlossen, was euren Nachbarn zur Linken, einen SS-Offizier und überzeugten Nationalsozialisten, aber nicht davon abhalten kann, vom Zusammengehen der Deutschen Wehrmacht mit den Amerikanern und gegen die Russen zu faseln. Das Geheul der Luftschutzsirenen ist verstummt; statt der B-52 Kampfbomber beherrschen jetzt die ‚Nähmaschinen‘ – wie die russischen MIG wegen ihres typischen Motorengeräuschs genannt werden – den Himmel. Das vereinzelte Geknatter deutscher Flugabwehrgeschütze geht immer mehr unter in einer stetig näher rückenden Geräuschkulisse aus Panzer- und Maschinengewehrfeuer, überlagert vom staccato der Stalinorgeln. An der Hermannstraße steigt plötzlich ein dicker, schwarzer Rauchpilz auf, der im Takt mit den einstürzenden Etagen des brennenden Hauses anschwillt und wieder schrumpft. Stunden später verbreitet sich das Gerücht, daß eine Gruppe von Hitlerjungs vom Dach des Hauses auf einrückende Soldaten der Roten Armee geschossen hat, worauf die Soldaten das Haus anzündeten.

Dann die Nachricht von Hitlers Tod. Die Erinnerung an diese letzten Kriegstage ist schemenhaft, geprägt von einer allgegenwärtigen Angst und einem Gefühl des völligen Ausgeliefertseins an das Unvorhersehbare. Mit dem Tod des Führers und Reichskanzlers verbindet sich impulsiv die Hoffnung auf ein Ende des Krieges, der schon längst Normalzustand ist. Aber wer wird dieses Ende noch erleben? Und was kommt danach?
Zwei Tage später, mit der „Einstellung aller Kampftätigkeiten“ – verkündet vom Reichssender Berlin – bekommt die Angst eine neue Qualität. Sie wird greifbar und nimmt Menschengestalt an. Sie ist nicht mehr allgegenwärtig im Brummen der Bombergeschwader, im Heulen der Luftschutzsirenen, im Schein der ‚Christbäume‘, die am Himmel hängen, im 'Feind hört mit' der totalen Überwachung. Die Angst lauert vor der Kellertür und hat ein eindeutiges Gesicht. Jetzt sind es „Tiermenschen aus der hintersten Mongolei, betrunken, aufgehetzt von Politkommissaren, haben jahrelang keine Frauen gesehen, Bluthunde, Abschaum der Roten Armee...“ Doch, ja, die nationalsozialistische Propaganda hat ganze Arbeit geleistet. Und in der nie verstummenden Gerüchteküche werden emsig zusätzliche Süppchen auf dem Feuer der Angst gekocht.
Dann kommen sie. Ein polnischer Zivilist, in der einen Hand eine Taschenlampe, in der anderen eine Pistole. Hinter ihm ein russischer Soldat mit schußbereitem Maschinengewehr. Sein Gesicht ist nervös angespannt. Der Pole wirkt kalt, überlegen:

„Verhalten Sie sich ruhig, bleiben Sie sitzen! Uhren, Schmuck? Sind deutsche Soldaten bei Ihnen?“ Er leuchtet in die Ecken, den Kellergang entlang und wendet sich in russischer Sprache an den neben ihm stehenden Soldaten. Der antwortet kurz und behält das Maschinengewehr im Anschlag, während der Pole Uhren und Schmuck einsammelt. Ohne ein weiteres Wort verlassen sie den Keller wieder. Das war es. Fünf oder sechs Minuten hat das wohl gedauert, aber die schienen endlos zu sein.
Die folgenden Tage ziehen eher wie ein Film an

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