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dir vorbei. Langsam wird dir bewußt: Keine Sirenen mehr, keine Flugzeuge, keine Bomben. Aber natürlich spielt sich das Leben weiterhin im Keller ab. Auf der Straße Motorenlärm, fremde Laute, Lachen. Das eine eben so ungewohnt, wie das andere. Aus dem gegenüberliegenden Lebensmittelgeschäft tragen die Soldaten Mengen von Butter, abgepackt und in Tonnen. Schon Wochen vorher gab es angeblich nichts mehr. Ich weiß genau, was ihr gedacht habt: „ Hoffentlich sind die Schweine krepiert!“
Langsam ändert sich die Szene. Die Kinder fassen schnell Vertrauen zu den russischen Soldaten, umringen einen Wagen, auf dem Suppe verteilt wird. Du bist nicht dabei. Aus der Entfernung schaust du sehnsüchtig zu. Es ist wohl weniger der Hunger, eher der Wunsch, dabeisein zu wollen. Aber es geht nicht. Nach den Wochen im Keller, umgeben von Erwachsenen, die du kennst, wirst du dir schlagartig deines Unvermögens bewußt, auf fremde Menschen – und dann noch womöglich Kinder – zuzugehen. Du verkriechst dich wieder im Keller. Mutti ist das nur recht, denn natürlich ist es draußen gefährlich. Gelegentlich löst sich schon mal ein Schuß aus Versehen, und am Nachmittag wird auch ein Nachbarjunge mit einer zum Glück harmlosen Wunde am Bein nach Hause getragen.
In den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Roten Armee mußten die Frauen – auch Mutti – Aufräumungsarbeiten auf dem nahegelegenen Flughafen Tempelhof verrichten. Frau M., die Nachbarin über euch, freundet sich dank ihrer russischen Sprachkenntnisse schnell und intim mit einem Major der Roten Armee an. Sie erreicht, daß die Frauen nicht mehr zum Flughafen müssen. Dank wechselnder Bekanntschaften bringt sie auch häufiger Leckerbissen, wie Butter und Kunsthonig, manchmal auch Dauerwurst und Schokolade mit. Alles wird geteilt, jeder bekommt etwas, vor allem die Kinder. Auch die Mitbewohner, die sich hinter vorgehaltener Hand über die Besudelung deutscher Frauenehre mokieren. Mutti fährt ihnen über den Mund. Gelegentlich siehst du auf der Straße gebrauchte Binden liegen und denkst entsetzt, es handelt sich um bandagierte, abgeschlagene Arme. Das Leben ‚normalisiert‘ sich auf unterster Ebene. Verfügung der Militärkommandantur: Alle Radiogeräte sind abzuliefern. Ein Bekannter hat euren ‚Super‘ schon vor Wochen fachmännisch auseinandergenommen und im Keller versteckt. Die Angst, daß er gefunden wird, sitzt euch im Nacken. Mutti steht oft stundenlang nach Brot an. Nicht selten umsonst: ausverkauft. Die zerstörte Brücke über die S-Bahn am Bahnhof Hermannstraße wird durch eine hölzerne Notbrücke ersetzt, so ist es jetzt möglich, Trinkwasser aus einer Kleingartenkolonie zu holen. Du übernimmst das zögerlich mit einem Einmachkessel und einer geliehenen Kindersportkarre. Eine Dreiviertelstunde Fußweg, vorbei an der Schalterhalle des Bahnhofs, in der immer noch die Leiche eines deutschen Soldaten liegt, denn tatsächlich sind erst wenige Tage seit Kriegsende vergangen. Das Herbeischaffen des Trinkwassers, eine Aufgabe, die du erst mit Zittern und Zagen übernommen hast, wird zu deinem ersten Schritt in eine gewisse Selbständigkeit. Auf einmal wird dir bewußt, du bist nicht mehr das Anhängsel, der Klotz am Bein. Du bist eine richtige Hilfe und, was noch wichtiger ist, du machst deine Sache gut. Schule ist kein Thema. Das Gebot der Stunde heißt ‚improvisieren‘. Und da hast du dein erstes Erfolgserlebnis. Mit einem simplen Frühstücksbrett verhinderst du, daß zuviel kostbares Naß beim Transport mit der wackligen Sportkarre überschwappt: Das Brettchen schwimmt einfach auf der Wasseroberfläche und hält die Wellen im Zaum. Auch beim Beschaffen von Brennmaterial für den Küchenherd machst du dich nützlich. Schön leise und begleitet von Muttis bangen Worten „Paß bloß auf, daß dich keiner hört“ demontierst du nach und nach das Treppengeländer von der dritten Etage bis zum Notdach eures Miethauses. Denn inzwischen habt ihr eure Wohnung wieder in Besitz genommen. Die Mauern sind zum Glück erhalten geblieben, und in die Fensterrahmen kommen ausfixierte Röntgenfilme, die Mutti irgendwo aufgestöbert hat.
Ihr beide, du und Mutti, seid ein verschworenes Paar. Es ist wahr, in dieser Zeit seid ihr euch so nahe, wie nie zuvor oder danach. Und eines Tages macht ihr euch gemeinsam auf den Weg nach Tempelhof, zu den Sarotti-Schokolade-Werken. Die Sache ist euch ganz und gar nicht geheuer. Mutti hat eine defekte aber vergoldete Armbanduhr. „Bei Sarotti tauschen die Russen Schmuck gegen Schokolade“, geistert ein Gerücht durchs Haus. Andere wollen gehört haben, daß im ‚Haus Vaterland‘ einem bekannten Großrestaurant am Potsdamer Platz, die Keller voll Kartoffeln seien.
Der Weg zu Sarotti ist nicht weit und an einem Vormittag zu schaffen. Trotz Umwegen aufgrund zerstörter Brücken und Schutthalden auf den Straßen, seid ihr nach drei Stunden da, nähert euch zögernd dem Werktor. Ein russischer Soldat kommt auf euch zu, sagt etwas, was ihr natürlich nicht versteht und deutet auf dich. Die Russen mögen Kinder, das hat sich schnell herumgesprochen. So bist du denn auch eine Art Schutz für Mutti. Klein und dünn, wie du bist, wird man dich eher für acht bis neun, denn für elf Jahre halten. Mutti zeigt dem Soldaten die Uhr. Er nimmt sie, betrachtet sie kurz und verschwindet im Verwaltungsgebäude. Ihr habt beide den gleichen Gedanken: Wenn er merkt, daß sie nicht geht, kommt er gar nicht erst wieder, oder ihr bekommt Ärger. Nach bangen fünf, sechs Minuten ist er wieder da, zeigt auf die Milchkanne, die du in der Hand hast, und sagt etwas. Mutti deutet seine Worte richtig und gibt ihm die Kanne, mit der er sich wieder zum Verwaltungsgebäude wendet. Erleichtert und voller Hoffnung erwartet ihr seine Rückkehr. Nach langen zehn Minuten taucht er mit der Milchkanne und einem Paket in der Hand wieder auf.. Diesmal sagt er nur zwei Worte, und die kennt ihr: „Dawai, dawai!“
Das laßt ihr euch nicht zweimal sagen. Erst in sicherer Entfernung vom Tor schaut ihr nach, was ihr da bekommen habt. Die Milchkanne ist voll Zucker, das Eingewickelte entpuppt sich als ein großer Block Rohschokolade. Zuhause angekommen, gibt es Schokoladensuppe und anschließend eine vierzehntägige Ruhr. Der Ausflug zum ‚Haus Vaterland‘ nimmt einen ganzen Tag in Anspruch. Ihr seid mit Nachbarinnen, zu fünf oder sechs unterwegs. Allein oder zu zweit – auch mit Kind – ist das zu gefährlich. Jeder von euch hat einen Rucksack, auch Taschen und zwei große Kinderwagen gehören dazu. Die Richtung ist nur ungefähr zu halten. Kleinere Straßen sind von Bomben aufgerissen oder überdeckt von Schuttbergen, aus denen hin und wieder Straßenschilder ragen, die eine Orientierung ermöglichen. Ihr seid mit die ersten Zivilisten, die sich in die Berliner Innenstadt wagen. Im ‚Haus Vaterland‘ erwartet euch eine herbe Enttäuschung: In den Kellern liegen nur Panzerfäuste.
In den folgenden Wochen und Monaten, ja, eigentlich bis zum Ende der Berlin-Blockade 1949, sind es zwei Menschen, die euch Halt geben. Ihre Gesichter habe ich vor Augen, ihre Stimmen im Ohr: Berta und Robert Augstein. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, Mutti hat sie noch in den letzten Kriegswochen beim Schlangestehen nach Brot kennengelernt. Robert Augstein, Metalldrücker und ehemaliger Ringer und Bodenmann in einer Artistengruppe, ist ein Pfahl in der Brandung jener Zeit. Diese beiden Urberliner nehmen euch unter ihre Fittiche.
„Komm her, meine Kleene“, begrüßt er Mutti immer; und Berta, seine Frau, warnt: „Mensch Vadder, nu zadrückse man nich jleich!“
Sie vermitteln euch auch den jüdischen Arzt Dr. Samuel, der euch, ohne zu fragen, ob und wann ihr etwas bezahlen könnt, als Patienten annimmt. Besonders Mutti braucht in dieser Zeit und auch in den Jahren darauf intensive Pflege und Betreuung. Und noch ein Name soll in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. Es ist Frau Jung, die zusammen mit ihrem behinderten Mann im Erdgeschoß eures Miethauses wohnt. Es ist kein Zufall, wenn mir auch heute noch auf der Suche nach ihrem Namen, den ich manchmal aus dem Gedächtnis verliere, der Name „Sonne“ einfällt. Sie war trotz aller Zurückhaltung, die man gemeinhin gegenüber fremden Kindern übt, die Sonne deiner Kindheit, soweit sie sich in Berlin, in der Emser Straße 58 abspielte.
Drei Monate nach Kriegsende wird Berlin unter den Besatzungsmächten in vier Sektoren aufgeteilt. Der Stadtbezirk Neukölln gehört nun zum amerikanischen Sektor und schmucke US-Soldaten lösen die Rote Armee ab. In der Eckkneipe Emser/Ecke Neißestraße dudelt Abend für Abend ‚Sentimental journey‘ bis zum frühen Morgen, nur hin und wieder von einer Schlägerei unterbrochen. Die Geschäftemacher kommen wieder aus ihren Löchern, es beginnt die große Zeit des Schwarzmarktes und der Zigarettenwährung. Mutti ist in ihrem Element: Sie ‚organisiert‘. Unter einer verdeckt gehandelten Adresse gibt es Rohkaffee. Die betreffende Wohnungstür wird nur auf ein vereinbartes Klopfzeichen hin geöffnet. Auch du wirst immer wieder ermahnt: „Dieter, du läßt niemanden in die Wohnung, wenn ich nicht da bin!“
Gelegentlich tauchen schon einigermaßen zwielichtige Gestalten bei euch zu Hause auf. Und manchmal sagt Robert Augstein auch zu Mutti: „Du, Hilde, da würd‘ ich die Finga von lassen; det is nich koscher.“
Einige Monate arbeitet Mutti in einer Firma, die aus Buntmetallstangen Feuerzeuge herstellt. Es ist eine Beschäftigungsmaßnahme des Magistrats. Dann ist das Rohmaterial aufgebraucht, und die Firma macht wieder zu. Es ist dieses ‚von der Hand in den Mund‘ leben, das dich gefangen nimmt und deine eigenen Probleme vergessen läßt. Du begreifst kaum etwas von dem, was da abläuft. Aber du bist eingebunden in das Geschehen. Hamstertouren; beide freut ihr euch wie die Schneekönige, wenn etwas geklappt hat. Zugeschnittene Stiefelleder von SALAMANDER in Burg verwandeln sich in Berlin erst in Rohkaffee und Ami-Zigaretten und dann in Nahrungsmittel. Die ersten Hamstertouren in die Ostzone, in Güterzügen, die gerüchteweise irgendwann Richtung Westen fahren sollen. Manchmal fahren sie auch gar nicht, werden nur auf ein anderes Gleis geschoben. Nur die Hoffnung nicht aufgeben. Dann deine erste, selbständige Tour, schon mit einem Personenzug: Du sollst in Burg eingetauschte Lebensmittel holen; Mehl, Eier, Kartoffeln. Alles ist abgesprochen, ‚organisiert‘, wie Mutti sagt. Auf der Rückfahrt hält der Zug in Potsdam: „Alles aussteigen, Zug endet hier!“
Nanu, denkst du erstaunt, der soll doch bis Bahnhof Zoo fahren. Du schaust aus dem Abteilfenster. Auf dem Bahnsteig stehen russische Soldaten und deutsche Hilfskräfte an langen Tischen. Du weißt, was das bedeutet: Alles abliefern! Da triffst du deine erste, ganz eigene Entscheidung. Nachdem alle anderen Mitreisenden den Waggon verlassen haben, schleichst du in die Zugtoilette, Rucksack in den Trichter, die Tasche daneben, Hosen runter und draufgesetzt. Die Tür hast du nicht verriegelt, das Besetzt-Zeichen würde auffallen. Und wenn einer kommt? Na gut, dann hast du eben Pech gehabt. Deine Vermutung, daß der Zug nicht in Potsdam bleibt, bestätigt sich nach einer Stunde. Es steigen auch wieder Fahrgäste ein. Als der Zug anfährt, verriegelst du die Tür, die Gefahr scheint vorüber zu sein. Das ist das schönste Schienengeräusch, das du je gehört hast, und am Bahnhof Zoo bist du wohl der einzige, der mit vollen Taschen aussteigt. Mit der S-Bahn nach Hause, Mutti ist noch nicht da. Dann hörst du sie kommen. Sie hat von der Razzia in Potsdam erfahren und sagt eben „..nein, nein, er kann noch nicht da sein.“