Ein Monolog
Das „er“ streichen wir doch mal gleich wieder – sagt jener, der mir stets dazwischenredet. In Ordnung, sage ich, aber ich setze es in Klammern, damit meine Leser wissen, daß es nicht da hingehört. – Wie du willst – sagt mein innerer Gesprächspartner. – Sonst noch was? frage ich in der sicheren Annahme, daß es das noch nicht gewesen ist. – Du weißt, daß du kein Schriftsteller bist?! – Ich bin ein Geschichtenerzähler, aber... – Aber? – Aber ich würde mich freuen, wenn ich manchmal ein Dichter sein könnte. – Das zu beurteilen, solltest du deinen Zuhörern, deinen Lesern überlassen.
Könnte das der Anfang einer Geschichte sein? Nun, zumindest ist es der Grund, warum ich ein Geschichtenerzähler bin. Der Anfang einer Geschichte könnte aber so lauten:
„Erzählst du mir eine Geschichte?“ fragt das Mädchen Swantje eines Nachts im Traum den Hasen Oliver. „Aber nicht spinnen, wie die Tina. Die erzählt immer Geschichten, die gar nicht wahr sind.“
„Alle Geschichten sind so lange wahr, wie man an sie glaubt. Und Tina glaubt an ihre Geschichten“, sagt da der Hase.
„Oliver, das versteh‘ ich nicht!“
„Weißt du, Geschichten sind wie gute Freunde. Sie werden aus Gedanken gemacht, und sie helfen denen, die an sie glauben.“
„Aber eine Geschichte, die nicht wahr ist, ist doch eine Lüge – oder nicht?“
„Wenn jemand eine Geschichte erzählt, an die er nicht glaubt, dann ist das eine Lüge.“
„Und deine Geschichten sind alle wahr?“
„Ich glaube an meine Geschichten.“
So fangen eigentlich alle meine Geschichten an, denn ich bin der Hase Oliver. Und ich glaube an meine Geschichten. Was natürlich ausschließt, daß ich sie erfinde.
„Ach, Sie schreiben Geschichten für Kinder?“ werde ich dann gefragt.
Nein, ich schreibe Geschichten für kleine und große Menschen, und ich hasse es, wenn jemand daher kommt und nach Lesealter einordnet.
„Und wie finden Sie Ihre Geschichten?“
Ich lasse sie mir erzählen. Allerdings nicht von Menschen. Womit wir dann auch schon beim Thema sind. Ich schreibe auf, was andere mir erzählen. Andere, das sind Tiere, Pflanzen, Gegenstände. Was sie erzählen, höre ich mehr im Kopf, weniger mit den Ohren. Die Augen sind natürlich auch beteiligt. Und die Phantasie. Mit der hat es allerdings eine eigene Bewandtnis. Sie ist als Dolmetscher tätig, indem sie die fremdsprachigen Erzählungen in meine Gedankensprache überträgt. Und dann sind da noch die Fakten. Die Fakten sind für die Logik zuständig, und in diesem Sinne halten sie dann auch die Phantasie im Zaum. Beispiel: Vor Jahren fand ich in der kommunalen Müllkippe, nahe unserem Dorf in Südfrankreich, ein Brett, das offensichtlich einmal ein Balken war und nach Jahrzehnte langem Wandern durch Flüsse eine faszinierende Form angenommen hatte. Zuhause angekommen, reinigte ich es vorsichtig und legte tatsächlich ein Gesicht, ein Brettgesicht frei. Ein Auge schaute mich an, ein Mund, der aus Platzgründen hochkant angeordnet war, sprach mit mir. Und ich schrieb auf, was ich hörte. Nach drei Tagen stand die Geschichte. Sie erhielt den Titel Unerwartete Begegnung und beginnt mit den Worten: „Oh, Verzeihung – ich starre Sie einfach so an...“
Dieses Brett begleitet mich stets auf meinen Lesungen, und es hat auch schon auf den Brettern, die die Welt bedeuten, gestanden, als seine Geschichte im Theater unserer Kreisstadt von einem Rezitator vorgetragen wurde.
Etwas anders verhält es sich mit der Parabel Schmetterlinge. Tatsächlich verdankt sie ihre Entstehung der Begegnung mit einem Schmetterling. Und das kam so: Vor einigen Jahren fuhren wir, meine Frau und ich, einen dieser schmalen Verbindungswege zwischen den Dörfern in der Garrigue (das ist die Buschlandschaft hier auf den Hochebenen) und wollten eine Freundin besuchen. Da bemerkte meine Frau einen Schmetterling, der sich im Scheibenwischer verfangen hatte und hilflos im Fahrtwind flatterte. Obwohl wir sicher waren, daß er längst tot sei, hielt ich an. Zu unserer Überraschung flog er plötzlich quicklebendig davon. Monate später hatte ich einen Diaporama-Termin in einem der übelsten Zuchthäuser Deutschlands, in Bielefeld-Brackwede. Am Morgen der Abfahrt nach Bielefeld und unter der Vorstellung dessen, was mich da wohl erwarten würde, fiel mir die Begegnung mit dem Schmetterling ein. Ich setzte mich hin und schrieb die Geschichte in einer halben Stunde. Ohne einen Buchstaben zu verändern, ging sie später in Druck. Zum erstenmal öffentlich gelesen habe ich sie – natürlich – in Bielefeld-Brackwede.
Diese Parabel über das Entstehen des Lächelns hatte ihren Ursprung tatsächlich nur im Kopf. Das Wesen des Lächelns war und ist für mich faszinierend. Unter den besonderen Umständen löste die fast vergessene Begegnung mit dem Schmetterling gedankliche Assoziationen aus, die in diese Geschichte, die inzwischen in 42 Sprachen und Dialekte übertragen wurde, mündeten.
Kürzlich erst war es die kunstvoll geformte Sproßranke einer Passionsblume, die zum Auslöser für einen Text wurde. Diese natürliche Meisterleistung verlangte direkt nach einem aphoristischen Kommentar. Sein Titel: Feststellung.
Natürlich sind die Protagonisten meiner Geschichten nicht selten auch Menschen. Es sind allerdings weder erträumte noch verabscheuungswürdige Idealfiguren, sie haben keine erfundenen Charaktermerkmale, und ich zwänge sie nicht in ein Handlungskorsett. Ich konfrontiere sie mit einer Situation in einer Umgebung, die mir bekannt ist oder über die ich mich eingehend informiert habe. Und dann sage ich: Nu macht mal... Und dann machen sie. Ich konstruiere keine spannenden Szenen, weil der ganz alltägliche Wahnsinn schon spannend genug ist. Auch hier ein Beispiel: Die Kurzgeschichte Keine Weihnachtsgeschichte hatte ich – ganz gegen meine Gewohnheit – als Krimi angelegt. Ein Banküberfall. Der Täter, als Weihnachtsmann verkleidet, hat auf der Straße ein verlorengegangenes Mädchen aufgelesen und benutzt es als Geisel. Dann ließ ich den Dingen ihren Lauf, und es wurde spannend. Und zwar für mich, den Autor. Sehr bald geriet der Täter, der sich angesichts einer ausweglosen Situation selbst umbrachte, aus dem Blickfeld, und der Kassierer wurde zur Hauptperson. Der ursprüngliche Krimi wandelte sich in ein Psychogramm. Und das Ende der Geschichte war für mich bestimmt genau so überraschend wie für meine Leser. Natürlich gilt es, besonders bei einer solchen Geschichte, die realen Spielregeln einzuhalten. Wenn die Hauptperson nicht knarrend durch die Handlung staken soll, muß sie mit Leben gefüllt werden. Und zwar in aller gebotenen Zurückhaltung. Wenn da ein Sammelsurium von Einordnungshilfen zusammengebraut wird, geht das schnell zu Lasten der Glaubwürdigkeit. Also habe ich bei der Ausgestaltung bewußt auf eigene Erfahrungen, Reaktionen und Überlegungen – nicht aber auf Vorurteile – zurückgegriffen. Ich war nie Kassierer in einer Bank, aber ich habe Augen im Kopf und – was noch wichtiger ist – ich kenne genügend Bankangestellte, die mich auch in dieser Situation fair beraten. Eine gute Geschichte lebt von der Art und Weise, wie reale Situationen, manchmal kleinste Kleinigkeiten, dem Leser vermittelt werden. Vor allem aber sollte er, der Leser, nie das Gefühl bekommen, daß der Autor alles schon weiß und nur nichts verrät.
Gelegentlich – und das ist für mich immer wieder faszinierend – kann auch ein Traum eine Geschichte auslösen. Ein besonders skurriles Beispiel liegt der folgenden Novelle zugrunde: Trikotagenfabrik, dieses Wort, es ist die veraltete Bezeichnung für einen Hersteller von Ober- und Unterbekleidung aus Strick- und Wirkwaren, geisterte nächtens durch mein Hirn. Dazu gesellte sich bald die gehbehinderte Fabrikbesitzerin, die sich, zwecks Kontrolle der Werktätigkeit ihrer Untergebenen, von ihrer Pflegerin in einem rollenden – und deshalb auch quietschenden – Eisenbett durch die Produktionsräume schieben ließ. Das brachte ihr die Spitznamen Das Ekel und – seitens der Humorvolleren – Die Straßenbahn ein. Wie gesagt, alles dieses beschäftigte mich im Traum, blieb mir aber auch am folgenden Morgen noch so gegenwärtig, daß sich, erst einmal nur gedanklich, ein Thema herausschälte: Die Beziehungen zwischen der Chefin und ihren Untergebenen in eben dieser Trikotagenfabrik. Als dann, sozusagen als Bindeglied zwischen den Parteien, die Gestalt des Oberbuchhalters hinzukam, machten sich die Ereignisse auf den Weg. Am Ende wurde es die tragische Geschichte eines Menschen, der sich, um anderen zu helfen, in ein Lügengebäude einspinnt, aus dem es schließlich kein Entkommen gibt. Der endgültige Titel Randnotiz ist gleichzeitig Rahmen und Schlußpunkt dieser menschlichen Tragödie.
Zusammenfassend muß ich natürlich sagen, daß die Art und Weise, wie ich an meine Themen komme, sehr aufwendig und schwer kalkulierbar ist. Kein guter Rat für Leute, die mit dem Schreiben Geld verdienen wollen oder müssen. Als Geschichtenerzähler wähle ich den direkten Weg zum Hörer und gewinne ihn nicht selten auch als Leser. Finanziell ist das ohne Frage ein Zusatzgeschäft, Lorbeeren werden auch nicht verteilt, und natürlich bleiben mir die Türen zum Literaturmarkt und seinen Einrichtungen verschlossen. Ich kann damit leben. Ich kann damit sogar gut leben, weil ich immer wieder auf Menschen treffe, die mich unterstützen, indem sie mir ihre Foren öffnen und bei der Gelegenheit feststellen, daß geteilte Freude tatsächlich doppelte, vielfache Freude ist. Als Geschichtenerzähler habe ich eine Maxime, die ich gern an den Schluß dieses Monologs stelle: Ich möchte meinen Zuhörern, meinen Lesern nicht die Zeit vertreiben – dazu ist sie zu kostbar. Ich möchte sie bereichern, indem ich die Gedanken anrege, mit den Themen zu spielen, Spaziergänge in der eigenen Erinnerungslandschaft zu unternehmen, Vergessenes wieder zu entdecken und in neue Zusammenhänge zu bringen.